Jeder Schwule
vergöttert mindestens eine Diva. Dies
ist selbstverständlich keine Tatsache.
Aber sollte sich die Diva die
Mühe machen, sich mal ihr Publikum anzusehen, würde
sie entdecken, daß es aus einem wesentlich höheren
Anteil von Schwulen besteht als vergleichsweise das
Publikum von Herbert Grönemeyer oder U2 ... Woran
liegt das? Eine mögliche Erklärung liefert die
Tatsache, daß Diven ein wenig skurril wirken, daß
bei ihnen irgendetwas nicht zusammenpaßt, ihr
Erscheinungsbild ist sonderbar - sowohl, was das
Aussehen wie auch das Verhalten betrifft.
Gelegentlich findet man es zum Lachen. Es ähnelt dem
Phänomen, wie man sich selber schief und daneben
fühlt, ab und zu.
Einen treffenderen Ausdruck
für dieses Gefühl "schräg, schief, daneben"
zu finden, ist unnötig. Es wäre ein Wort, das meinen
persönlichen Zustand in Bezug auf jenes
post-postmoderne Zeitalter beschriebe (ein
Zeitalter, welchem ich der Einfachheit halber die
Bezeichnung Hyperinformativismus verleihe), aber ich
suche ja nicht mehr danach ...
Eine sehr ähnliche Erklärung,
warum die Schwulen all diese Diven lieben, lautet:
die Diva ist, wie es die Amerikaner nennen, "camp".
Allerdings kann ich diese Simplifizierung einfach
nicht mehr ertragen. Das Wort ist schwer ins
Deutsche zu übersetzen mit "so schlecht, daß es
schon wieder gut ist" ... Die deutschen
Schwulen verwenden heutzutage häufig den Ausdruck
"camp", wie viele Anglizismen. Doch sind sie sich
der Subtilitäten und Nuancen auch bewußt, die der
Ausdruck "camp" impliziert? Ich meine, ich hoffe
doch sehr, daß Nuancierungen und Subtiles durch den
Ausdruck "camp" impliziert werden. Ich las das Wort
sogar in einem Artikel des brillianten
Popkulturwissenschaftlers Diedrich Diederichsen, und
die gute Susan Sontag schrieb einen bekannten Essay
über das Thema "camp", allerdings bezeichnete sie
von ihrem damaligen Stand- und Zeitpunkt aus einige
Dinge als "camp", die heutzutage definitiv nicht
mehr camp sind.
Es ist gar nicht unbedingt
die Frage, ob man den Zustand der Homosexualität
überhaupt umfassend erörtern sollte (eine
subkulturelle homosexuelle Identität begann erst in
den letzten zweihundert Jahren zu entstehen; vorher
gab es zwar "homosexuelle" Handlungen, doch waren
diese lediglich eine Verhaltensform). Könnte man den
Zustand der Homosexualität zusammenfassend
beschreiben, dann sicherlich nicht mit dem Wort
"camp". Und sicherlich nicht als
"Barbra-Streisand-Fan".
Noch nicht.
(Musik: NO ES VIDA)
*
Es gab - oder gibt - eine
Form von Ikonismus definitiv schwulenspezifischer
Natur. Der frühere Titanic-Kolummnist und frühere
Foyer-des-Arts-Sänger Max Goldt bezeichnete diesen Ikonismus
als - ich zitiere - "... die Verehrung irgendwelcher
dummer, alter Weiber ..." Da er selber schwul ist,
sollte der heterosexuelle Leser einfach mal davon
ausgehen, daß Max weiß, wovon er spricht. Goldt sah
diesen Ikonismus sogar als das Hauptmerkmal von
Homosexualität an, bevor er absurderweise selber ein
Objekt schwuler Ikonisierung wurde, aber lassen wir
das (das Jahr '91 liegt ja auch
schon wieder ein Weilchen zurück).
Wen haben wir denn bisher auf
unserer Liste? Da sind u.a. die Golden Girls,
Rosenstolz, Marianne Rosenberg, Hildegard Knef und
und und ... (Leander, Dietrich, Mira, Haag, Hagen,
Frost, Dee, Streisand, International, Marjahn,
Kerner (gemeint ist Nena), Thumser (gemeint ist
Gert), Fischer (gemeint sind Tim oder Pips oder Kim)
und Merkel bzw. Madonna) . Sie sind
allgemein üblich, gewissermaßen Standardverehrung.
Nicht zählen tun die No Angels oder Jeannette. Nena
zählt auch nicht, und Nico auch nicht. Fragen Sie
mich nicht.
Nun, bislang habe ich bloß
die Homosexuelle Standardverehrung
aufgelistet.
Da diese Formen von
Homosexualität in den späten Neunzigern und frühen
Nullern aus der Mode kamen, versteifen sich die
Schwulen zunehmend auf den sog. Hardcore-Ikonismus.
D.h. die Schwulen, die anders sein wollen als die
anderen Schwulen, suchen sich wesentlich speziellere
Persönlichkeiten aus und heben sie auf den Sockel
der Diven-Verehrung, ganz nach dem Motto, "Ätsch,
die verehre ich, und niemand sonst". Und wenn
man dann jemanden trifft, der doch die gleiche Ikone
verehrt, dann ist die gemeinsame Reverenz ein
verbindendes Element, dann zeigt sich eine
Seelenverwandtschaft seltener Art, als hätte man
einen besonderen Freund gefunden. Für ältere Schwule
ab 30 gehört z.B. Juliette Greco zu diesem Kreis,
oder Marianne Faithfull, die Einstürzenden
Neubauten, Diamanda Galas, Meredith Monk, sowie
meine neuesten Errungenschaften Caetano Veloso und
Lila Downs. Laurie Anderson hat es sich ja erstmal
ein bißchen verscherzt bei uns mit ihrem Lob auf den
Bürgermeister der Stadt New York, welches sie auf
einer Live-Platte vom September des Jahres 2001 von
sich gab.
Nicht alle dieser
Hardcore-Ikonen sind ohne unfreiwillige Komik: Eine
unbeabsichtigte Verwerfung hinsichtlich einiger
dieser Künstler hat ihren eigenen Charme: Ich werde
eines Tages die Angelegenheit von Luixy Toledo, Mary
Schneider oder The Shaggs ansprechen, wenn auch
nicht heute.
Zu meinen großen
Hardcore-Ikonen gehörte einstmals eine peruanische
Sängerin, vielleicht. Vielleicht stammte sie auch
aus Brooklyn. An der Natur unserer Wirklichkeit
hatte ich schon gezweifelt, seit Thommi Ohrner und
Patrick Bach im Kindesalter Stars wurden und ich
nicht. Doch in den letzten zehn Jahren haben sich
die Beweise langsam dafür erhärtet, daß die Welt, in
der wir leben, nichts anderes sein kann als das
seifenopernartige Produkt einer wilden, wenn nicht
gar gestörten Phantasie. Zitatverfremdung Ende.
Angefangen hatte
alles am 26. Oktober 1990. An diesem Tag kehrte ich
müde aus San Francisco zurück (siehe
oben/unten) und besuchte meinen Nachbarn, der
gerade völlig ausflippte wegen einer Schallplatte,
die er kurz zuvor aufgelegt hatte.
Die Musik, die erklang, war
eine verrückte Mischung aus fetzigen Mambo-Rhythmen
und einer überkandidelten Sängerin, die manchmal ein
bißchen wie Nina Hagen klang und manchmal wie eine
Opernsängerin. Total crazy. Es wurde mir erzählt von
meinen Nachbarn, sie sei eine geborene
Inka-Prinzessin, die mit dreizehn Jahren das Singen
angefangen hatte und in den fünfziger Jahren in
überfüllten Konzertsälen und in großen Tanzclubs
sang, aber niemand kenne sie heute. Ihr Name: YMA
SUMAC.
Die Langspielplatte hieß
"MAMBO". Den wilden Tänzen meiner Nachbarn und
meiner WG-Mitbewohner sah ich wohlwollend, wenn auch
distanziert zu, schließlich ließ ich mich sogar zu
ein bißchen Mittanzen herab, aber insgesamt habe ich
wohl gedacht "Naja". Schließlich lag mein Coming Out
erst wenige Monate zurück.
(Musik: MALAMBO N° 1)
Einen Monat später schon war
ich überzeugt, einer der größten Yma-Sumac-Fans der
Welt zu sein. Das kennt kaum einer außer mir, dachte
ich zufrieden. Auf dem "Warmen Winter `90",
einem Treffen von schwulen Jugendgruppen aus dem
gesamten deutschsprachigen Raum in Berlin, erfuhr
ich durch einen bezaubernden, in Heidelberg
lebenden, peruanischen Jungen namens Ariel,
dem sie bekannt war, daß sie noch in Peru lebt und
hin und wieder in privatem Kreis auftritt, jetzt
eher Oma Sumac.
Doch die Ereignisse
überstürzten sich dann recht schnell: Auf einer
Platte von der NDW-Band "Palais Schaumburg" aus dem
Jahre 1983 entdeckte ich zu meiner Überraschung zwei
Samples von der MAMBO-LP. In Berlin erwähnte ich die
Künstlerin gegenüber einem Musikstudenten, der
sagte: "Kenn' ich", und ehe ich begriffen hatte,
hatte ich schon zur Hälfte erklärt, wer sie war. Der
Musikstudent sagte daraufhin: "Kenn ich: Das ist
eine amerikanische Koloratur-Sängerin namens Amy
Camus aus Brooklyn; die hat bloß ihren Namen
umgedreht und auf peruanisch gesungen, weil sie in
der Oper so schlecht war."
Dies war meine erste
Begegnung mit dem Amy-Camus-Gerücht (in etwas
groteskerer Verzerrung als frührere Fassungen).
Schnell folgten weitere Gerüchte.
Man hatte sie angeblich in
den fünfziger Jahren mit Recht als absolutes
Stimmwunder in den höchsten Tönen gelobt - ihre
stimmliche Bandbreite umfaßte viereinhalb Oktaven,
ihren eigenen Behauptungen zufolge sogar fünf
Oktaven. Und selbst jetzt, da die peruanische
Inka-Ikone weit über Siebzig Jahre alt sein soll,
sollen es immer noch recht viel Oktaven für eine
Sängerin sein, nämlich etwa drei.
Einstmals nahm sie,
so wird behauptet, in Hollywood viele mysteriöse
Folklore-Platten unterschiedlichster Qualität auf:
manches war obskur-düster und musik-anthropologisch
wie ihre fünfte Platte "JIVARO", vieles hatte aber
auch nur die ethnologische Authentizität eines
Tarzan-Film-Soundtracks, wie "LEGEND OF THE SUN
VIRGIN" und "THE VOICE OF XTABAY". Doch ihre Stimme
flog wie ein Kondor über die klassisch anmutende
Orchestrierung des eigenwilligen aber brillianten
Arrangeurs Les Baxter (auch wenn der Komponist der
meisten Lieder Moises Vivanco war, Yma Sumacs
kongenialem Partner und Ehemann). Auch Rock-Musik
wie auf ihrer letzten Scheibe "MIRACLES" von 1971
und die heißesten Mambos auf ihrer berühmtesten
bereits o.g. Schallplatte "MAMBO" von 1955 (in denen
sie stimmlich am meisten brillierte) gehören zu
ihrem abwechslungsreichen Repertoire. Mambos,
die das perfekte Gegenmittel gegen all jene
anderen tausendmal gehörten Samba-Langweiler aus
Südamerika sein dürften (das zitiere ich, aber
ich habe vergessen, woraus).
(Musik: JUNGLA)
Ich erfuhr nach und nach
mehr: Sie sollte damals ein auf der ganzen Welt
gefeierter Star gewesen sein, gab Konzerte selbst in
Moskau. Seit drei Jahrzehnten aber schien ihr Ruhm
hinüber, niemand kannte sie mehr, sie selber schien
verschollen und gab keine Konzerte. Jedoch, immer
noch 1991, lief im Regionalfernsehprogramm
überraschender- und seltsamerweise ein von einem
deutschen Regisseur namens Günther Czernetzky
gedrehter Dokumentar-Film über sie. Dieser
Film überraschte uns aber noch mehr durch die fast
völlige Abwesenheit von Yma Sumac (bis auf einige
alte Filmschnipsel, viele Bilder und viele
Interviews mit Personen, die irgendwann einmal etwas
mit ihr zu tun gehabt hatten). Der Film "Yma Sumac:
Hollywoods Inkaprinzessin" tappte fast nur im
Dunklen und stellte Vermutungen an über Yma Sumac,
die sich geweigert hatte, darin zu erscheinen (auch
hatte sie es irgendwie geschafft, Interviews mit
ihrem Sohn und ihrem geschiedenen Ehemann zu
verhindern - Vivanco ist übrigens leider im Jahre
1998 verstorben). Es scheint, daß Yma Sumac selber
strengste Kontrolle über alle Einzelheiten ihres
legendären Lebenslaufes behalten wollte: mit
Prozessen mußten alle rechnen, die falsche oder
richtige Details verbreiteten.
Ihre Plattenfirma Capitol
Records gab sie beim Erscheinen ihrer ersten Platte
als echte Inka-Prinzessin aus einem kleinen Dorf in
den Anden aus, um die Verkaufszahlen durch diese
Exotik zu steigern.
So ließ es mich der oben
bereits erwähnte seltsame und fast belanglose
Dokumentarfilm über Yma Sumac wissen. Er ließ mich
auch wissen, was ich oben schon erwähnte, nämlich
daß ihr Fankreis heutzutage hauptsächlich aus Schwulen
besteht - für dieses Kompliment fühlte ich mich
damals sehr geehrt. Der Film konnte keinerlei
Klarheit bringen, wer oder was sie in Wirklichkeit
war, Inkaprinzessin oder Brooklyn-Girl, nur, daß sie
einen Stern auf dem Hollywood-Boulevard hat, aber
wer hat das nicht, und daß sie Angst hat, daß sich
der Mythos enthüllt und die Lüge eines ganzen Lebens
enthüllen könnte - vielleicht gibt es gar keine Yma
Sumac.
Zwei Wochen später
bestätigten sich meine Zweifel an der Kohärenz
dieser Welt. Aus Berlin hatte mich völlig
ausgeflippt mein Nachbar angerufen. Am 28. Oktober
1991 - genau ein Jahr nach meiner ersten
Bekanntschaft mit ihr - sollte dort Yma Sumac im
Theater des Westens auftreten, auf ihrer einzigen
Welt-Tournee-Station in Deutschland.
Berlin sollte die erste
Station ihrer Welt-Tournee werden. Unterwegs auf
dieser Tournee waren nur sie, zwei Kostüme und drei
Inka-Statuen; auf die Bühne kam sie dann allerdings
mit sechs deutschen Musikern, mit denen sie
angeblich vorher geprobt hatte, die aber eher in
einen Jazz-Keller gepaßt hätten - obwohl der
berühmte Pianist Kai Rautenberg die Kombo anführte,
er, der auch schon Hildegard Knef und Brigitte Mira
begleitet hat am Klavier.
Drei Viertel des Publikums
waren übrigens tatsächlich die sog. "Herren mit den
Ohrringen" oder die "kleinen Jungs", wie Yma
liebevoll ihre heutige Hauptclientele bezeichnet. Es
schien ein großer feierlicher Moment zu werden,
weitab von HARDCORE-IKONISMUS, nein, sie schien
tatsächlich vor einem großartigen Comeback zu
stehen.
Das Konzert im Theater des
Westens wurde dann tatsächlich zu einem der
spektakulärsten Ereignisse des Jahrzehnts.
Mich überkam eine tiefe
Ergriffenheit, eine kosmische Rührung - ich sah
sie (und es schien schon zu diesem
Zeitpunkt etwas anderes zu sein als der allgemein
gängige Soft-Core-Ikonismus). Sie lebte,
sie erwies sich als eine real-existierende
Person, und sie sang wirklich fast so wie auf ihren
Platten, drei Oktaven waren es auf jeden Fall, bloß
die vier-einhalbte Oktave schaffte sie wohl nicht
mehr ganz so kräftig.
(Musik: ATAYPURA)
Nach einem Instrumental kam
sie, nach dreißig Jahren zum ersten Mal wieder in
Deutschland, in einem blau-goldenem Kostüm auf die
Bühne mit dem eben gehörten Stück "ATAYPURA", einem
ihrer wohl legendärsten Lieder von ihrer ersten
Platte "THE VOICE OF XTABAY", und mich überkam große
Rührung. Großer Jubel und Dank beim Publikum. Mit
wundervoller Selbstironie freute sie sich, daß sie
nach 2000 Jahren wieder einmal hier sein durfte. Es
folgten einige nicht ganz so wichtige Stücke, in
denen sie noch nicht so viel Stimmliches zeigte. Bei
"MONTANA", einem peruanischen Wiegenlied, ist das
Publikum dann begeistert, bei dem nachfolgenden
Stück "LA MOLINA" dann noch mehr, es will sie gar
nicht in die Pause gehen lassen, sie muß vorher noch
eine Zugabe machen (was erneut "LA MOLINA" war).
In der zweiten Hälfte
verwirrte zunächst die Instrumentalversion von
"MALAMBO N° 1" durch schlechtes Gespieltwerden,
sowie die Tatsache, daß Yma beim zweiten Stück
"SURAY SURITA" zu spät auf die Bühne kam, fast so,
als hätte sie ihren Einsatz verpaßt. Es war der
Anfang vom Ende ...
Stimmlich leistete sie jetzt
mehr, sie machte mehr mit ihrem tiefen
"BA-UA-UA-UA-UA-UA-A-A-A", sie versuchte es aber
immer noch mit der vierten Oktave, die sie früher
doch noch gekonnt haben wollte; hier wirkte sie zum
ersten Mal als tragische Figur, aber ansonsten sang
sie immer noch so ganz genauso wie auf ihren alten
Platten, wie ein älterer Konzertbesucher gerührt
befand. Das eigenartige Gefühl sich überschneidender
Zeitlinien ergriff mich und meine Nachbarn und
WG-Mitbewohner, die alle hier bei diesem Konzert
waren. Alle waren wir hier.
Im weiteren Verlauf waren die
wunderschöne Opern-artige Arie "TU'CA NUN CHIAGNE!"
und ein fetziges Stück, "CELEBRATE LIFE" sehr
überzeugend, bei dem sie dem Orchester erstmal
zeigen mußte, wie es den Rhythmus zu spielen hat
(dies ein eher unprofessionelles Verhalten, aber
eher von ihrer Seite aus als seitens der Musiker - langsam
wurde alles etwas merkwürdig ... )
Doch plötzlich endete das
Konzert mit Buh-Rufen. Yma wollte Stücke von der
Mambo-LP spielen, doch entweder konnte sie sie nicht
mehr, oder das Orchester war nicht eingeübt genug,
zu viel Jazz. Obwohl sie ihrem Herzen nach
weitersingen mochte, brach Yma das Konzert
unvermittelt ab.
Sie erzählte uns von dem
schrecklichen Auto-Unfall, bei dem sie Arme und Bein
gebrochen hätte, was immer noch schmerzen sollte,
und von dem schrecklichen Wetter, das ihr auf die
Stimme schlug, weshalb sie nicht genügend Zeit zum
Proben gehabt hatte, und daß die Musiker schon
gegangen waren; es klang alles so südamerikanisch
wie in "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel
Garcia Marquez, einem Roman, in dem einem auch
laufend solche Geschichten vorgesetzt werden.
Sie versprach, am nächsten
Montag noch einmal aufzutreten, und daß dann alles
perfekt sein würde. Dieses Konzert wurde jedoch von
der Theaterleitung abgesagt, mit einem unverschämten
Verweis auf die angebliche "körperliche
Hinfälligkeit" der Sängerin !
Es paßte zur
Legende, zum Mythos Yma Sumac; wir hatten wieder ein
neues Geheimnis, etwas worüber man rätseln konnte.
Sie blieb relevant. Hinterher sah ich sie am
Bühnenausgang in ihren Mercedes steigen, umringt von
ihren treuesten Fans und meinem völlig ausgeflippten
Nachbarn und seinen Mitbewohnern; jeder versuchte in
diesem Moment, ihr ein positives Gefühl zu
vermitteln, doch sie war sehr verschüchtert wegen
all der Menschen, und sehr mitgenommen. Und ich
hatte sie als einen lebendigen Menschen gesehen.
(Musik: MAMBO CONFUSION)
Dieses Erlebnis entmutigte sie nicht,
weiterzumachen. Die Legende geht nicht auf diese Art
zu Ende. Der Stern der obskursten Diva der Welt
sollte noch nicht untergehen. Sie nahm eine Maxi-CD
im Disco-Sound auf - mit dem eben gehörten Stück
"MAMBO CONFUSION" - , die allerdings kurz nach ihrem
Erscheinen gleich wieder zurück zur Plattenfirma
wanderte. Der ungewöhnliche Grund: Yma hatte bei den
Neuaufnahmen auch Instrumentierungen und
Vokalsamplings aus ihrem alten Stück "CHICKEN TALK"
verwendet, für das sie allerdings gar nicht die
Rechte besaß und auch nicht erwerben konnte (nun, wenigstens einmal war es mir
zu meinen Lebzeiten vergönnt gewesen, die
"brandneue Sumac" erstanden zu haben).
Eine LP namens "MAMBO CONFUSION" war
ebenfalls für ganz kurze Zeit im Handel
erhältlich, doch es befand sich darauf kein neues
Material außer dem eben erwähnten Disco-Stück.
Es scheint überhaupt erstaunlich, dass es Menschen
gibt, die dieses seltene Kleinod besitzen. Bin ich
vielleicht auch gar nur eine Illusion? Und wenn ja,
kann mich dann trotzdem jemand verklagen?
Doch dann - nach
diesem kleineren Debakel - kam Yma Sumac kurzerhand
am 22. Mai 1992 zu mir in die Meistersinger-Halle
nach Nürnberg. Es sollte ihr letzter Auftritt in
Deutschland werden.
An diesem Abend gab sie in
Nürnberg im kleinen Saal der
Meistersingerhalle vor ca. 120 Gästen das letzte
Konzert ihrer Deutschlandtour. Trotz einer erneuten
schweren Erkältung, die echt wirkte, wie jeder
Zuhörer bemerken mußte, war sie an einigen Stellen
des Konzerts in der Lage, stimmlich fast wieder die
Höhen ihrer Karriere zu erreichen. Um mich herum
schimpften Konzertbesucher "Olle Transuse, die
kann gar nicht singen. Tremoliert nur, ihre Stimme
ist ganz belegt, ihre Texte hat sie vergessen,
lauter falsche Noten krächzt sie."
Es tat weh, die Stimmen zu
hören, die hier lästerten ... Da stand auf der Bühne
ein Mensch, und in dieser Stimme spürte der sensible
Konzertbesucher die Erfahrungen und das Gefühl einer
ganzen Lebensspanne. Ein ganzes Leben erschloß sich
hier, da diese ergreifende Stimme zu hören war, und
es schien nur natürlich, daß sie anders klang als
damals zu den Höhen ihrer Karriere. Yma hatte dafür
mehr Tiefe, mehr Authentizität denn je ... Hier mit
dem Anspruch nach Perfektion zu kontern, war einfach
unangebracht, nein, hier war absoluter
HARDCORE-IKONISMUS angesagt. Alles in allem verlief
das Konzert besser als in Berlin, vor allem der
Schluß.
Doch ihr damaliger Manager
versuchte (gerüchteweise), sich eine goldene
Nase an ihr zu verdienen. Yma Sumac lebte bereits in
verarmten Verhältnissen - und träumte davon, wieder
den Ruhm und den Glanz verlorener Zeiten um sich zu
spüren. So ließ sie sich von diesem sogenannten
Herrn Manager unter Vertrag nehmen, um
wieder zu Glorie & Erfolg zurückzufinden, aber
dieser Vertrag hatte es in sich, denn die Manager
kassierten den Großteil des Ertrages für sich.
Daß ihre Tour katastrophal
endete, bedeutete auch für die Manager, mit ihr
anders umzugehen. Ihr wurde kein Hotelzimmer mehr
bezahlt. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hatte
nicht das Geld für einen Rückflug. Im Sommer 1992
hieß es sogar, daß sie versuchte, mit Hilfe von
Mitwohnzentralen in Berlin eine Wohnung zu finden,
weil sie in Deutschland bleiben wolle. Dieses
Gerücht war saftig und eines der letzten, die ich zu
hören bekam. Sie verschwand aus den Feuilletons und
Klatschkolummnen, sang- und klanglos, und für lange
Zeit hörte kein Mensch in Deutschland etwas von ihr.
(Musik: CHUNCHO)
(Zwischenmoderation: "Das war das
Stück CHUNCHO von Yma Sumacs dritter
Langspielplatte bei Capitol Records, INCA TAQUI.
Stimmlich einer ihrer glanzvollsten Momente)
Jahre später hieß es, sie lebe wieder in Amerika
oder in Peru oder in Spanien. Also als ob dies von
Bedeutung sei. Es war stets die
Unterschiedlichkeit der Gerüchte, die Yma Sumac
besonders faszinierend erscheinen ließen. Die
Wirklichkeit verwirrt und ernüchtert uns stets
gleichermassen. Und selbst ein
HARDCORE-IKONISMUS verblaßt mit der Zeit.
Ein Auftritt von Yma Sumac
beim Internationalen Jazz-Festival in Montreal im
Jahre 1997 fand wohl tatsächlich statt. Ebenfalls
kein Gerücht sind die neueren CD-Veröffentlichungen,
die endlich auch seltene Tracks (frühe Aufnahmen und
andere Abmischungen bereits bekannter Songs)
präsentieren, wie zum Beispiel die Compilation
"Virgenes del Sol". Eine der letzten
Musikveröffentlichungen war der Longplayer "YMA
ROCKS!" (eigentlich eine Neuauflage von
"MIRACLES", jedoch noch einmal überarbeitet und mit
zwei bislang unveröffentlichten Titeln, die
ebenfalls 1971 produziert worden waren), den man
allerdings nur exclusiv über die folgende
Yma Sumac website im Internet bestellen
kann unter: http://www.sunvirgin.com
(bei der es sich im Übrigen anscheinend
nicht um die offizielle Homepage von Yma Sumac
handelt, wie mir inzwischen von anderer Seite
angedeutet wurde, trotzdem sind hier äußerst
hingebungsvolle Ikonisten am Werk - die etwas
kommerziellere und weniger informative "offizielle
website" wird am unteren Ende dieses Artikels
angegeben!) ....
Auch die letzte
Buchpublikation war ausnahmsweise kein Gerücht: Der
Verlag Neue Kritik hat im Jahre 2001 das Buch
"apropos Yma Sumac" veröffentlicht, welches ganz
reizende Essays und Texte enthält, die sogar ein
bißchen informativ sind, dazu eine biographische
Kurzübersicht sowie eine Auswahl an bezaubernden
Schwarzweiß-Photographien. Es wäre allerdings
trotzdem etwas vermessen, dieses Büchlein als
Biographie zu bezeichnen. Der Essay von Anna-Bianca
Krause deckt sich übrigens inhaltlich mit dem gerade
sich dem Ende nähernden Radiobeitrag über weite
Strecken aufs Erstaunlichste. Andererseits ist es
nicht wirklich allzu erstaunlich, dass die
Autorin ebenfalls jenes Konzert im Theater des
Westens besucht hatte ( - selbst Berlins
Superstar-Dragqueen Ades Zabel war ja dort gewesen)
... Ansonsten entstand mein Traktat aber
völlig unabhängig von Krauses opulenten
Verzweigungen (eine
Verwandte von Reinhard Krause, der den
hervorragenden SPEX-Artikel über Yma Sumac mit
einem schönen Interview im Jahre 1991 schrieb?).
Das Buch erneuert die Sinne, so wie Venedig die
Sinne des ausgebrannten Gustav von Aschenbach zum
letzten Mal belebte. Nein, der HARDCORE-IKONISMUS
stirbt nie, aber selbst der hingebungsvollste
Ikonist kann vor seiner seiner Leidenschaft nicht
ewig bestehen, schließlich und irgendwann, da
die Zeit nicht stillsteht.
(Musik: YAWAR)
*
Yma Sumac hat große Tage
erfahren in ihrem Leben und sensationelle Momente
geschaffen. Soviel steht fest. Ihre Aufgabe, ihre
Mission - sie spürte es, sie sagte es auch einmal -
lag darin, in dieser chaotischen, verrückten,
düsteren Zeit den Menschen etwas Freude und Glück zu
bringen - und dies hat sie bis zur heutigen Zeit
geschafft.
Allerdings ist die
Freude, die sie bringt, oftmals nicht diejenige,
welche sie beabsichtigt hatte.
*
Zusätzliche Vermerke,
Datierung beginnend ab dem 06. Oktober 2005:
06.10.2005:
Bislang lautete der letzte
Satz dieses umfassenden Traktats: "Allerdings ist
die Freude, die sie bringt, oftmals nicht
diejenige, welche sie beabsichtigt hatte." Dies
wurde von vielen Lesern und auch meinem ehemaligen
Nachbarn aus Fürth als let down bemängelt;
sie fühlten sich durch den kargen Schluß etwas
enttäuscht ... Ich bin gefragt worden, warum ich in
meiner Haltung zu Yma Sumac zum Schluß hin so
unkonkret werde, so als sei es plötzlich in keinster
Weise mehr klar, ob ich denn nun noch ein treuer
Hardcore-Ikonist bin oder nicht?
Ich verstehe, daß ich hierzu
noch einmal genauso weit ausholen muß wie zu dem
bisherigen Teil dieses Artikels, ja, eventuell noch
weiter ! In den folgenden Tagen, Wochen
und Monaten werde ich versuchen, meine derzeitige
Haltung umfassend zu konkretisieren ! Bislang
zumindest ist der HARDCORE-IKONISMUS im Laufe der
Zeit nicht abgeklungen, wenn er auch keine weitere
Steigerung mehr erfahren hat ...
Der Schluß dieses Beitrages
lautet also derzeit wie folgt:
Postskriptum: Das drittletzte Gerücht!
In
"ATAHUALPA", der neuen 72-Stunden-Oper
von Philip Glass und Bob Wilson, wird die
Figur der Tlascala (die weise und mit den
Geistern verstorbener Könige sprechende
Urgroßmutter Atahualpas) von niemand anderem
als Yma Sumac dargestellt und
gesungen! In der weiteren Besetzung: Ricky
Martin als Atahualpa, David Bowie* als
Francisco Pizarro, Lila Downs als Prinzessin
Xtabay, Caetano Veloso als der Inca-Rebell
Huayna, Meredith Monk und Diamanda Galas als
Equinoxe Eins und Zwei (zwei Besucherinnen aus
dem Katzenaugen-Nebel
NGC 6543) sowie Rufus Wainwright als
Diego de Almagro II., jenem rebellischen Sohn
von Diego de Almagro und einer Indianerin, der
im späteren Verlauf der Handlung Francisco
Pizarro töten wird ...
Das
Libretto zu "Atahualpa" basiert, nebenbei
bemerkt, auf einer Episode
des Radioessays VEXIERKLANG von Daniel
E. Aldridge. Diese Sendung wurde bereits am
22. Dezember 1991 bei Radio Z. ausgestrahlt. Es
wurde auch behauptet, daß der Autor des Essays
mittlerweile den Librettisten, einen gewissen
Nicholas E. Limansky,
verklagt habe.
Ich
habe inzwischen erfahren, daß es sich defintiv
wirklich nur um ein Gerücht handelt!
Niemand
hat irgendwen wegen irgendwas verklagt.
(Musik: WINOWEH)
DERZEITIGES ENDE
DES RADIO-BEITRAGS
Nachtrag (und vorletztes
Gerücht):
Am 24. Februar
2006 präsentierte die Formation "AUBERGE DE
JEUNESSE, KYOTO" anläßlich der Eröffnung des
"Daniel Emerson Aldridge Themenparks" im
Établissement SOFIA (Berlin-Kreuzberg) den Song
"Immortal
Inka
Princess", eine Hommage und
Liebeserklärung an Yma Sumac.
Der Sänger der
Formation (siehe Abbildung unten), der an diesem
Abend leider nicht unter seinem Künstlernamen "The
Prince formerly known as the Autist"
angekündigt wurde, ist im Übrigen identisch mit
dem Autor des gerade endenden Textes.
(THE
PRINCE FORMERLY KNOWN AS THE AUTIST)
~
DAS LETZTE GERÜCHT:
"ENGELSSPHÄRENGESÄNGE MIT YMA
SUMAC!"
Link zum
Nachruf auf Yma Sumac in der Los Angeles Times
vom 3. November 2008:
Yma
Sumac, 'Peruvian Songbird' with multi-octave
range, dies at 86
~
WEITERE LINKS VON
BEDEUTUNG:
Link zu
Nicholas E. Limansky, dem Autor der Biographie "YMA
SUMAC - THE ART BEHIND THE LEGEND" :
divalegacy.com
Eine
weitere glamouröse Yma Sumac Website: sunvirgin.com
(diese sogar mit den Lyrics von elf
Liedern ! )
Die offiziell authorisierte
Homepage: yma-sumac.com
(mit letzten
Interviews sowie Informationen hinsichtlich
letzter Konzerte, wie zum Beispiel das Hukilau
Festival im Oktober 2005 in Florida