DAS WUNDER VON WUNIBALD




 
 
 
Eigentlich ist die Geschichte schnell erzählt – doch ist sie durchaus sonderbar und ungewöhnlich. Es geschah vor vielen Jahren - in einer wunderschönen blauen Stunde – an jenem stillsten und friedlichsten aller Spätnachmittage, am 24. Dezember 1984, irgendwo im verschneiten, idyllisch-hügligen Mittelfranken, ganz in der Nähe des kleinen Städtchens, in dem ich damals noch lebte. Ich war damals noch ein junger Mann im nicht mehr ganz so zarten Alter von 15 Jahren, doch zog ich mit meinen drei Freunden immer noch zu dem steilen Hügel, der etwas ausserhalb der Stadt lag, so dass wir auch an diesem Tag ungestört laut sein konnten, bevor wir später andachtsvoll mit unseren jeweiligen Familien zu den entsprechenden Weihnachtsgottesdiensten gehen würden.
 

Johlend fuhren wir gerade mit unseren Schlitten den Hügel herunter – als es geschah. Über uns am Himmel erschien plötzlich ein strahlendes goldenes Leuchten. Zuerst war es nur wie ein besonders heller Stern, doch innerhalb weniger Augenblicke wurde dieses Leuchten größer und kam uns schnell näher. „Wos is no dees nochert?“ murmelte der Salchingers-Armin. Ich dachte ja erst, es sei so was wie E.T. – doch als das goldene Leuchten direkt vor uns landete, erblickten wir darin einen wunderhübschen Jüngling mit einer kitschigen goldenen Lockenpracht.
 

Der blöde Maiers-Toni fiel zitternd und ängstlich auf die Knie und faltete seine Hände und flüsterte fromm und gottesfürchtig: „Oh - bist dus wärgli, oh du lieber Jesus?“ Und dann fügte er noch ein besonders frommes „Oh...“ hinzu. Liebevoll grinste uns dieser holde Knabe an – von seinem goldenen Schein ging übrigens auch eine ungeheure Wärme aus. Der Schnee um uns herum fing bereits zu schmelzen an. Der Junge antwortete mit einer klingenden Stimme: „Nee – der Jesus bin ick nich. Ick bin der Zwillingsbruder vonne Jesus, der Wunibald.“

An und für sich hätte mich ja nichts weiter verwundert an herumfliegenden, leuchtenden Jungen, aber daß er a) berlinerte und b) ein Zwillingsbruder von Jesus namens Wunibald sein sollte, fand ich dann doch ein wenig unwahrscheinlich. Auch der Maiers-Toni stand wieder auf, zum einen, weil seine Hosen ziemlich nass geworden waren von dem vielen geschmolzenen Schnee, zum anderen weil er nicht länger in der Lage war, fromm und gottesfürchtig zu bleiben. „Des glabi net – an WUNIBALD gibt’s net in der Bibel!“ protestierte er. „Und wieso schbreckst du nochert su bleed?“
 

„Det kann ick allet janz jenau erklärn!“ rief der strahlende Jüngling aus: „Na det, wat inna Bibl stehn tut, is ja ooch blooß die Hälfte, und da ham se nich so über mich schreiben wollen, weil icke, ick bin ja det schwarze Schaaf vonne himmlische Famille.“ – Dann erzählte er seine erstaunliche Geschichte – und wir hörten ihm atemlos zu. Es war also dereinst geschehen in der heiligen Nacht, als Maria in Bethlehem das Jesuskind zur Welt brachte, doch gleich danach folgte noch unerwarteterweise ein zweiter Junge – mit dem hatte niemand gerechnet, auch der liebe Gott selber nicht. Maria und Joseph tauften den zweiten Jungen auf den Namen Wunibald. Die beiden Jungen wuchsen dann gemeinsam bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater auf, und beiden war eine große Zukunft vorausgesagt worden. Doch während Jesus fromm den Weg beschritt, der ihm gegeben war, und noch damit wartete, irgendwelche Wunder zu vollbringen, fing Wunibald schon wesentlich früher damit an, befremdende Dinge zu tun. So verwandelte er sich zum Beispiel öfter in einen Hasen, der Eier legen konnte, oder er hypnotisierte die Dorfjugendlichen, um sie dann einem Meter über dem Boden in der Luft schweben zu lassen, während sie gleichzeitig unbewußt ein Potpourri sonderbarer Weihnachtslieder sangen, die erst zweitausend Jahre später komponiert werden sollten.

 

Am besten nutzen wir die jetzt folgende kurze Pause für einen musikalischen Schnelldurchlauf dieser erlesenen Weihnachtssongs.
 



 
 

Das Wunder von Wunibald
Zweiter Teil: Am selben Abend, nur wenig später ...
 

Die leuchtende Aura des vom Himmel herabgestiegenen Jungen, die uns auch einhüllte, hatte inzwischen nicht nur den Schnee schmelzen lassen, nein, das Gras war inzwischen auch schon wieder trocken. Es kam mir vor wie ein heißer Sommernachmittag, mit mindestens 30 Grad im Schatten, und wir zogen uns schon unsere Jacken und Pullover aus, während wir weiter der erstaunlichen Geschichte lauschten, die uns Wunibald, der angebliche Zwillingsbruder von Jesus, hier mit seinem unerträglichen Berliner Akzent erzählte.

Normale Wunder wurden ihm zu profan – er sah, daß sich am Verhalten der Menschen nichts änderte. Die einzige Verwendung, die der liebe Gott für ihn fand, war seine Tätigkeit als Osterhase. Auch Jesus hatte den Lauf der Dinge bereits akzeptiert und verschwendete keinen Gedanken daran, die Welt noch weiter verändern zu wollen. Aber nachdem Wunibald in seinem siebzehnten Lebensjahr beschlossen hatte, ein ganz besonderes Wunder zu vollbringen, um allen Menschen auf der Welt absolutes Glück und ewigen Frieden zu bringen, machte er sich umgehend ans Werk. Er las in fünf Nächten die Gesamtwerke aller vergangenen und zukünftigen Philosophen, Theologen, Politikwissenschaftler, Soziologen und Mathematiker durch – und erklärte dann „Ick habe es – der Sex is det Problem!“ Er konnte jede Fehlentwicklung darauf zurückführen, daß irgendwer gerade sexuell frustriert war, ... wie zum Beispiel sämtliche bedeutenden Politiker der Weltgeschichte.
 

So beschloß er also, sein großes Wunder zu vollbringen: „Keen Mensch soll jemals sexuell frustriert sein!“ – und flog davon. Seitdem beglückt er permanent die gesamte Menschheit, doch bis er alle durch haben würde, fehlten ihm nur noch ein paar Jahrzehnte. Da die Evangelisten alle äusserst prüde waren, hatten sie niemals ein Wort über Wunibald verloren, obwohl sich Jesus selber immer äusserst lobend und zuvorkommend über seine Arbeit äussert. In den letzten Jahrhunderten war er in Berlin aktiv gewesen – daher auch der Akzent, den er sich nicht mehr abgewöhnen konnte.
 
 

Um uns war inzwischen eine Hitze wie in der Sauna, und wir glühten selber bald von der heißen Aura Wunibalds. Es war mir bislang gar nicht aufgefallen, daß er ja völlig nackt war. Der Müllers-Seppl und der Maiers-Toni hatten sich ihre völlig durchgeschwitzten T-Shirts ausgezogen, doch jetzt wurde ihnen jedoch etwas mulmig zumute, und sie hüstelten unsicher. „Aber wos willst no do von uns nochert?“ fragte der Maiers-Toni schließlich – die Geschichte erregte auch ihn heftigst, und wir bemühten uns alle, uns nicht gegenseitig auf die Hosen zu gucken – doch beschäftigte uns alle der gleiche Gedanke. Konnte es wirklich sein, daß jeder von uns vier Kleinstadtlümmeln den selben tief in sich verborgenen Wunsch hegte?

Wunibald machte es uns einfach – denn plötzlich spürten wir, wie wir schwerelos wurden und mit ihm zusammen gemächlich in die Lüfte emporstiegen, und damit wir nicht voneinander lostreiben würden, berührten und umarmten wir uns zärtlich.

Hieraus wurde dann eine stundenlange Himmelfahrt mit wilder Lümmelei zu fünft, mit allerhand erstaunlichen Wundern – bevor wir wieder zurücksanken zu unseren Kleidungsstücken und unserem normalen Leben. „Machts jut, ick hab noch in Schina zu tun!“ rief er zum Abschied zu uns herunter, und wir winkten ihm nach, bis sein Licht am Himmel verschwunden war, berührt und verzaubert, denn uns war heute der Wunibald erschienen, welcher bald allem Volke widerfahren wird, oh Gloria in Exzelsis Wuni  ....

 

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© Daniel Emerson Aldridge