voyage to
oblivion
1
An einem nebligen Februartag im
Jahre 2119 kam Dr. Kim Sanguan zu Chris. Der Nebel
stieg vom nahen roten Plasmafluß auf und umhüllte
den dreißigjährigen, schlanken Filipino wohlig und
sanft; das Gefühl von Ungewißheit, Unsicherheit und
Angst verstärkte sich in ihm nur - und es gefiel
ihm. "Da bist du ja!" Sie war ungeduldig. Im Nebel
hatte er nicht mehr als ein goldenes Glitzern von
ihrem Sphärenblitz gesehen, und unterwürfig näherte
er sich seiner neuen Vorgesetzten. "Dr. Kim
Sanguan", sagte er leise: "KOMPENSATION
INKOMPATIBLER ATMOSPHÄRISCHER KOMPONENTEN." -
"Du wirst pünktlich ein festes Gehalt erhalten,
eigene Räume, und du hast drei Wünsche frei.
Akzeptierst du die Versklavung?" Wie klang ihre
Stimme? Warm und tönend. Trotzdem haftete ihren
Worten die eisige Aura der Unpersönlichkeit an. Der
Nebel wich zurück, und zum ersten Mal sahen sich die
Genetikerin und ihr neuer atmosphärischer
Spezialist.
*
Christoria mochte den unbeholfenen
Mann, den die Weltraum-Zentrale ihr für die Aufgabe
zugewiesen hatte, sogar noch, bevor sie ihn sah.
Seine Stimme wies ihn als sensibel und verletzlich
aus. Und - ... in seinen honigbraunen Augen
leuchtete das Wesenhafte.
Sie war Christoria Fahrenheit, die
1. Genetikerin von Aldebaran IV. Sie war Christoria
Fahrenheit, eine Botschafterin des Lichts. Der
Sonnenstaat BOLO'BOLO war die ideale
Gesellschaftsform, die sie sich erträumte... "Laß
uns gehen." Sie streckte ihre Hand aus. Dr. Sanguan
zögerte, ergriff sie aber noch rechtzeitig, bevor
Christoria ungeduldig werden konnte. Als er den
Kontakt hergestellt hatte, formte sich der
Sphärenblitz um sie herum, löste sie auf und
materialisierte sie an einem anderen Ort.
Christoria lag in ihrem Bett Nr. 3 -
Sternenpanorama - , als Dr. Kim Sanguan mit einem
Tablett in den Händen hereinkam, das er einer
Dienerin abgenommen hatte. "Guten Morgen. Ich bringe
Euer Frühstück", erklärte er, und sie nahm es ihm
ab. Als sie "Danke," sagte, klang ihre Stimme zum
ersten Mal freundlich, ohne Kälte. Er zögerte, wußte
nicht, wie er reagieren sollte. Er beschloß,
überhaupt nicht zu reagieren, senkte den Kopf und
ging rückwärts zur Tür. Ein Ruf von Christoria
stoppte ihn. "Bleib stehen!" Fragend und überrascht
blickte er sie an. "Wie alt bist du?" Die Frage kam
überraschend, also fiel ihm nichts anderes ein, als
verdattert die Wahrheit zu sagen. "Dreißig
terranische Jahre." Er wurde rot, als er Chris'
erwachsenes Lächeln sah. Was wollte sie von ihm?
Ihre Ansätze von Vertraulichkeit machten ihn wütend.
"Als wir gestern die Kutschfahrt machten... - warum
hast du da das hermaphroditische Wesen im
Matrosenanzug so verträumt angesehen, das am Strand
mit seinen jüngeren Geschwistern Ball gespielt hat?"
Kim erschrak darüber, daß sie so ausgezeichnet
beobachten konnte. "Ich habe ihn gar nicht
angeschaut..." erklärte er verschüchtert. Christoria
lachte auf. "Es - nicht er! - ist Raven, mein
hermaphroditisches Ničce-Neveu. Wenn du wünschst,
schicke ich es zu dir."
Dr. Sanguans Unterkiefer zitterten
merklich. Er konnte nur widerspruchslos nicken. Fast
sah er resigniert aus.
Christoria blickte ihn mit
angriffslustigem Vergnügen an. "Und du wirst tun,
was du willst!"
*
Raven erschien als eine
dunkelviolette Nebelwolke im Nachtigallenpavillon,
um Kim herum, der gerade die Vögel fütterte. Der
Nebel tanzte formlos um ihn herum und setzte sich
zusammen zu den festen Formen Ravens; in unsicherer
Faszination schaute Kim zu. "Komm mit mir!" sagte
es, und der Spezialist für atmosphärische
Komponenten gehorchte ihm.
Am Meeresstrand stellte es ihm
seltsame Fragen. "Soll ich ein Mädchen sein oder ein
Junge?" - "Na, ein Mädchen natürlich..." sagte Kim,
ohne nachzudenken, und seine Stimme war heiser. Es
lachte. "Nimm dich in Acht, ich werde wissen, wenn
du nicht die Wahrheit sagst."
Mädchen und Junge zogen sich aus und
liebten sich im Sand, umtost vom Auf und Ab der
Wellen eines wilden Ozeans. Es machte ihn
besinnungslos, so daß er glaubte, er müßte aus der
Haut fahren. Als sie ihn in sich eindringen ließ,
zog er sie an sich und küßte sie wie verrückt,
während seine Hände über ihren Rücken glitten und
fest ihre Pobacken drückten, und das blutrote, warme
Plasma des aldebaranischen Ozeans sie mit sinnlicher
Geschmeidigkeit umspülte.
Zum ersten Mal seit fünf Jahren gab
es etwas anderes als Arbeit in Dr. Kim Sanguans
Leben - seine eigenen Taten der Liebe, wie der
Strudel eines schwarzen Loches.
"Was denkst du?" fragte ihn Raven,
als sie später in erschöpfter Umarmung im Sand lagen
und nichts mehr taten. "Ich habe geträumt,"
flüsterte er. Raven lachte darüber. "Ach was. Du
bist zum ersten Mal seit langem aus dem Traum
aufgewacht, den du dein Leben nennst, für die
Spürungen der Realität. Außerdem hast du gelogen,
kleiner Dr. Sanguan. Ich weiß jetzt, du willst einen
Jungen."
In diesem Moment formte sich ein
Sphärenblitz um sie herum, und entließ Chris, mit
zwei Elfenwachen. Diese packten Raven an den Armen
und zerrten sie hoch (ihre Flügel summten
libellenartig, als sie sie in der Luft zappeln
ließen). Dr. Kim Sanguan sprang entsetzt auf, aber
er fand nichts, was er sagen konnte. Christoria trat
vor Raven. "Ich habe dir nicht erlaubt, zu ihm zu
gehen, Raven," sagte sie mit einer Stimme ohne
Gefühl. Dr. Sanguan hatte genug von der Situation.
"Du willst sie bestrafen?" Noch nie hatte seine
Stimme so leer und müde geklungen. "Es hat dich
nicht haben sollen, Kim - du bist ihnen verboten." -
"Nein!" rief Kim. Christoria sah plötzlich
sehr freundlich aus. Erst jetzt wurde ihm bewußt,
was er tat. Er tat überhaupt etwas.
Stille trat ein, selbst der warme Wind und der Ozean
wurden leiser. Die Elfenwachen ließen Raven los, die
sich wortlos in schwarzem Glitzern auflöste.
Christoria nickte. "Sag, was mit dir ist," forderte
sie Dr. Sanguan freundlich auf. Widerstrebend
schüttelte er den Kopf, voll innerer Zerrissenheit.
Sie nahm es zur Kenntnis und ging
nicht weiter darauf ein. "Du kannst dich auf unsere
Abreise vorbereiten. Heute Abend fliegt unser Schiff
ins SOL-System. Morgen treffen wir Helean
Papathanassiou, die Botschafterin der Erde.
Vielleicht beenden wir auch den Krieg gegen die
Unbekannten. Such' dir was Passendes zum Anziehen."
2
Der Krieg gegen die Unbekannten
tobte seit zehn Jahren. Es gab keinen Gegner, nur
zerstörte Raumflotten und verbrannte Planeten. Sie
war aufgewachsen in dieser Zeit, wie in einem
Drogenrausch, auf Aldebaran: Tochter des Philosophen
und der glamoureusen Malerin, eingebettet in
trügerische Sicherheiten, aufgewachsen mit
MENTALMUSIK und bittersüßem, purpurfarbenem Alkohol.
Aber es gab auch Helean, die auf der Erde lebte,
weit entfernt vom Krieg im Aldebaran-System, und die
Freundschaft zu ihr. Diese Griechin war chaotisch
und anarchistisch, und Christoria war friedfertig
und sanft.
Zehn Jahre waren vergangen seit dem
ersten Flug durch die Saturnringe, wo sie sich
kennengelernt hatten, und keine von beiden glaubte
daran, die andere noch zu kennen.
*
Urplötzlich brach der Morgen in das
Halbdunkel der Nacht. In der geringen Atmosphäre ,
nahe des Äquators, kommt der Übergang schnell - auf
Titan, einem der Monde des Lebenden Planeten Saturn.
Über die Mondbasis war eine riesige Kuppel gestülpt,
in der sich die alte, verrottete Stadt
emporstreckte: Durch eine der kleinen, dreckigen
Gassen schlenderte Kim, umtobt von lärmenden
Gossenkindern.
Christoria hatte ihm einen freien Tag gegeben, aber
er wußte ihn nicht zu nutzen. Zwischen den
hochaufragenden, verwinkelten Häusern konnte man
Saturn im Sonnenlicht schimmern sehen - einen
Planeten aus lebender, denkender Substanz, aber
unergründlich und einsam. Es gab keine
Verständigungsmöglichkeit.
Doch darüber dachte Dr. Sanguan
nicht nach. Seine Gedanken galten dem Jungen im
schwarzen New-Wave-Look mit den schwarzen Haaren,
die sich bewegten, stilisiert wie züngelnde Flammen.
Er lehnte an der Wand und beobachtete ihn unverblümt
- mit wachen, aber nicht mehr jungen Augen.
Schließlich, am Ende der Unsicherheit, ging Kim zu
ihm hinüber und sprach ihn vorsichtig an. "Warum
starrst du mich so an?" Der New-Wave-Punk gab die
'Wer starrt?'-Pose aber gleich auf. "Ich starre,
weil ich Sie mag. Zumindest von Ihrem Äußeren her.
Woher kommen Sie?" - "Von... Aldebaran." Der Punk
nickte; er wußte davon Bescheid. "Dann sind Sie mit
der Botschafterin gekommen - der atmosphärische
Spezialist." Dr. Sanguan nickte verwirrt.
"Und du?" Die Gegenfrage hätte nicht
allgemeiner gehalten sein, ein ganzer Roman nun
folgen können. "Ich bin der Falke Tahaas Raroia
Fangataufa. Vor zwei Jahren war ich der größte
Künstler in der Sternenwelt."
*
Der Falke Tahaas, 21 Jahre alt,
konnte auf ein ganzes Leben zurückblicken. Dichtung,
Musik, Licht und Kraft - daraus bestanden seine
Kunstwerke, die unvergänglich irgendwo im Turm der
Sterne aufbewahrt wurden, nahe des Zentrums der
Galaxis. Was war er zuerst gewesen? Ein
vierzehnjähriger Junge, der, sich um nichts
kümmernd, Gedichte schrieb und dazu Musik und Licht
komponierte. Was war er später gewesen? Ein
neunzehnjähriger Mann auf der Höhe seines Ruhms,
geachtet und bejubelt. Jetzt war er vergessen und
verhöhnt.
Dr. Sanguan erinnerte sich - er hatte ihn sogar
einmal gesehen, als er nach Aldebaran gekommen war,
aber dieses umjubelte Wesen war nicht in Verbindung
zu bringen mit diesem anderen Tahaas. Und er hatte
auch gehört, daß er tot war, umgekommen in dem
Bürgerkrieg. Im Grunde genommen gab es nicht den
geringsten Zweifel - in den Interplex-Reporten hatte
er die Leiche gesehen - es war sogar eines der
wenigen Male gewesen, in denen er die mentale
Übertragung auf vollständige Sensorik geschaltet
hatte, denn er hatte den Drang verspürt, diese
Leiche zu berühren, so wie er den lebenden Künstler
oft in vollständiger Sensorik genossen hatte.
Es gab nicht den geringsten Zweifel... Er stand vor
einem Toten. Tahaas erkannte die Frage am fragenden
Gesichtsausdruck Kims. Er lächelte kurz, nur ein
bißchen. "Ich werde Ihnen das erklären..." begann
er. "Wohnen Sie in der Aldebaranischen Botschaft?"
*
Kim - Zögern ...
"Ja.
Kommst du mich dort besuchen?"
Tahaas - Vorsicht vor den
eigenen Gefühlen ...
"Ja, ich komme.
Sagen Sie, Kim - werden wir Freunde sein?"
Kim - Ausweichen, Betrübt sein ...
"Ich...
ich kann nicht lange bleiben."
Tahaas seufzte. "Und ich kann diesen
Ort nicht verlassen. Ich liebe ihn. Das imaginäre,
dreckige Paradies. Ich habe nicht mehr viel, und ich
will das wenige nicht wegwerfen. Und wär es ein
Wasser, von dem ich träumte, so wär es eine
Pfütze, an der ein trauriges Kind in der Dämmerung
hockt und ein Papierschiffchen lossegeln läßt.'
A.R."
Dr. Sanguan verstand das Zitat. "Ich muß zurück zur
Botschaft," log er. "Dann gehen Sie ... Verschwenden
Sie Ihre Sekunden!" Kim erschrak vor Tahaas'
plötzlichem Zorn. Als er gehen wollte, trat Tahaas
unerwartet auf ihn zu, legte ihm den Arm um den
Hals, zog ihn zu sich heran und küßte ihn auf den
Mund. Ein Blitzgefühl von Panik verwandelte sich in
etwas anderes, als sie ihre Erregung fühlten. Mit
seinen Händen wollte er ihn von sich wegdrängen,
aber stattdessen umarmte er ihn und zog ihn an sich.
Seine Hände drangen unter den Stoff von Tahaas' Hemd
und fuhren umherirrend über seinen Rücken. Sie
drängten sich aneinander, ihre Zungen wollten
miteinander verschmelzen. Funkenhaft sprangen ihre
Energien aufeinander über. Als sie voneinander
ließen, starrte Kim ihn mit weit aufgerissenen Augen
an und war nicht fähig, etwas zu sagen. Tahaas'
wildes Lachen war wie ein Blitz, dann drehte er sich
um und rannte lachend fort, zu ein paar anderen
Punks, die die Straße herunterkamen. "He, was ist
angesagt?" rief er, als er zu ihnen sprang.
Dr. Kim Sanguan blickte ihnen nach, noch erfüllt von
dem Donnergroll nach dem Blitz des Kusses. Er sank
an der Wand nieder und blieb dort angelehnt sitzen,
mit geschlossenen Augen.
*
In der kühlen Stille drangen
plötzlich die leisen Stimmen fremder Kinder an sein
Ohr. "Es ist das M'Ir..." - "Das M'Ir!" - "Schaut
nur... - es ist wieder da!" Er öffnete
überrascht die Augen, weil er im ersten Moment
glaubte, das ehrfurchtsvolle Flüstern galt ihm, aber
die, die es verursachten, waren überhaupt nicht zu
sehen. Er drehte den Kopf zur Seite und sah eine
düstere Gasse, aus der es kam. Erschrocken sprang er
auf und wußte nicht, ob er fortlaufen oder hingehen
sollte, aber der unbewußte Drang war stärker als
sein Verstand. Vorsichtig schlich er um die Ecke und
schaute. Mehrere Gossenkinder standen vor einer
zerfallenen Häuserwand und blickten auf etwas nicht
erkennbares in der Ruine - Dr. Sanguan registrierten
sie nicht.
"Willst du wieder mit uns spielen?" sagte eines von
ihnen etwas lauter, ein anderes zischte ihm zu: "Sei
leise, es verschwindet, wenn uns ein Erwachsener
bemerkt!" Sie kletterten über die zerbröckelte Mauer
in die Ruine hinein. Kim lief zu der Stelle, wo sie
gestanden waren, lehnte sich mit dem Rücken an die
Wand und schielte um die Seite, unbemerkt, wie er
hoffte. "Spiel mit uns, M'Ir!" Er konnte zuerst
nicht sehen, wen oder was sie ansprachen.
Dann erblickte er ein anderes Kind,
ein junges Kind (es war nicht zu erkennen, ob es ein
Mädchen war oder ein Junge), das nicht auf dem Boden
stand sondern über ihnen in der Luft, jedoch sah es
nicht so aus, als schwebte es. Es sah so aus, als
hielten unsichtbare Seile das Wesen an Füßen und
Händen in der Luft, gegen die es sich wehrte und die
es gegen seinen Willen nicht auf die Erde ließen. Es
war durchsichtig, das aber unterschiedlich, mal mehr
und mal weniger - und darum zu kämpfen, sichtbar und
materiell zu werden. "Laß sie endlich los, lieber
Saturn! Laß ihn spielen mit uns!" riefen die
Kinder ungehalten gen Himmel.
Kim Sanguan kletterte über die Mauer
und kam wie hypnotisiert dem Wesen-Kind näher. Er
stieß einen Schreckenslaut aus, als es ihm genau
entgegensah - mit dem Gesicht und den Augen von
Christoria Fahrenheit. Das Wesen-Kind, das sie
"M'Ir" nannten, löste sich mit einem schmerzlichen
Gesichtsausdruck auf und war fort. Ein paar der
Kinder schrien enttäuscht und wütend auf und liefen
auf Kim zu. Dieser rannte davon, nicht weil er sich
fürchtete, sondern weil er verstört war.
*
Mit den anderen Punks hockte der
Falke Tahaas gegenüber der Ruine, ohne Grund am
gleichen Ort, und sah Dr. Sanguan zu, genauso
verwirrt. Ehe er dem anderen nachlaufen konnte,
formte sich um ihn herum ein Sphärenblitz und
schleuderte ihn fort. Niemand von den anderen
kümmerte sich darum.
*
Helean nahm den Sphärenblitz kaum
wahr, der sich in ihrer Eisblase über Titan formte
und Tahaas entließ. Die Kälte ihres Gefährts genoß
sie, im Gegensatz zu ihrem Schützling, der sich
fröstelnd umblickte. Sie war beim Malen. "Was denkst
du?" (Ihre Stimme war dunkler und wärmer als die von
Chris, und ihre Haare von tiefstem Schwarz). Tahaas
starrte sie niedergeschlagen an. "In einem
Eisblumenparadies hockt in der Mitte, wie die böse
Schneekönigin, ein schwarzrosafarbener
Schmetterling. Er hat deine Augen." Helean hielt
inne und legte ihren Pinsel nieder. "An
Interplex-Sonde Anoia 4", dachte sie: "Ich frage
mich, warum ich so böse zu ihm bin. Er ist so
verletzlich, so menschlich. Ich will etwas in ihm
zerbrechen und weiß nicht warum!" Laut sagte sie:
"Hier." Sie reichte ihm ihre Opiumpfeife, die er
widerstrebend annahm. Schon nach den ersten Zügen
schien er sich wohler zu fühlen.
Ohne sich zu rühren, starrte er aus dem Fenster - zu
Titan über sich und dem Saturn dahinter.
"Ich traf heute in der Alten Stadt
einen sehr lieben Mann. Er heißt Dr. Kim
Sanguan." - "Der atmosphärische Spezialist von
Christoria Fahrenheit", hakte Helean sofort ein.
Tahaas nickte nur; natürlich war sie über alle
Aspekte des bevorstehenden Treffens informiert. "Ja,
aber das ist unwichtig. Wichtig ist bloß, daß wir
uns küßten. Ich habe das Gefühl meiner Lippen
aufgezeichnet - schon lange nicht mehr war eine
Information so aufsehenerregend semiotisch!" Er fuhr
herum. Anklagend sein Blick. "Ich werde zu ihm
zurückgehen und bei ihm bleiben, und du wirst mich
nicht von dort wegholen!"
Seine Augen funkelten, berauscht.
"Weißt du... - er hat dieses Wesen-Kind getroffen,
mit dem die Kinder von Titan spielen. Ich habe es
jetzt auch gesehen. Dieses Wesen sah für mich aus
wie du, Helean, aber ich könnte schwören, daß Kim
darin etwas anderes zu erkennen glaubte." Tahaas
drehte sich wieder um zu Helean, die ihn beschwingt
anlachte. "Es ist eigentlich unerklärbar", sagte er
verstört. "So wie dein eigenes Erlebnis, Tahaas.
Geh' nur spielen mit deinem Dr. Kim Sanguan",
entgegnete sie nur. "Ich werde es inzwischen
herausfinden." Ehe er noch etwas sagen konnte,
schleuderte sie ihn in einen neuen Sphärenblitz,
zurück zum Saturnmond.
3
Unruhig und nervös half Kim
Christoria beim Anziehen ihres schwarzen, wallenden
Abendkleides. Berührungen mit ihrer Haut waren wie
Peitschenschläge; ihm war, als umhüllte ihn
Finsternis, wenn er ihr zu nahe kam. "Was ist mit
dir?" Ihre Stimme war gereizt.
Ihr Haar war so ungekämmt wie nur irgendmöglich.
"Ich habe jemanden getroffen in der Stadt auf dem
Mond. Er heißt Tahaas. Vielleicht kennst du ihn, er
war einmal ein berühmter Künstler." - "Ach ja.
Fangataufa, der Falke. Ich hatte ihn vergessen. Ich
dachte, er sei tot. Was macht er wohl bei Helean?" -
"Ich habe ihn geküßt!" sagte Sanguan nur. Christoria
sah ihn anerkennend an. "Nicht viele haben ihn
geküßt", grinste sie boshaft. "Doch tu' nur das, was
du willst, und es wird gut sein." - "Aber für dich
gilt dieser Grundsatz nicht! Du kümmerst dich um
nichts, und alle sind dir egal! Du hättest Raven
wehgetan. Du machst dich über Tahaas lustig. Warum
helfe ich dir überhaupt?" rief Dr. Kim Sanguan
plötzlich. Christoria zog es vor, nichts zu
erwidern. Er nickte nur und wandte sich ab. Von dem
Wesen-Kind erzählte er ihr nichts.
*
Im großen Ballsaal tanzte Tahaas mit
Dr. Kim Sanguan und entführte ihn von dort auf die
Straße. Aus den entgegengesetzten Ecken des Raumes
sahen ihnen Christoria und Helean zu, ohne sich an
ihrem Verschwinden zu stören. Als die beiden fort
waren, standen sie fast gleichzeitig auf. In der
Mitte des Ballsaales trafen sie sich. So fanden sie
sich finster einander gegenüber, und die
repulsorischen Tanzscheiben unter ihren Füßen
levitierten langsam und ziellos durch den Raum. Die
Gedankenbefehle, die die Tanzscheiben von den beiden
Frauen empfingen, waren nur als Wunsch nach
gegenseitiger Nähe bestimmbar. "Chris..." flüsterte
Helean. Mit einem Mal sprang sie auf Christorias
Tanzscheibe. "Also sind das wirklich du und ich!"
sagte Helean. Sie aktivierte einen Sphärenblitz, der
sie in die Eisblase im Orbit von Titan brachte, wo
sie alleine waren.
Christoria blickte sich fröstelnd um in der eisigen
Umgebung. "Wie..." Sie konnte ihre Frage nicht
beenden. Helean fiel ihr in die Arme, überraschend,
so als ob es eine Erlösung von allen Sünden war.
"Chris! Oh, Chris..." Sie drückte Christoria fest an
sich und vergrub den Kopf an ihrer Schulter; sie
zitterte heftig und sprach kein Wort, eine lange
Zeit. Christoria duldete es, weil sie nicht wußte,
was mit Helean los war. Sie spürte die Kälte um sich
herum, von der ihre einstige Freundin so angezogen
war. Helean löste sich von ihr und sah sie an, ruhig
atmend. "Du hättest wirklich schon vor langer Zeit
kommen müssen!"
Ihre Augen blitzten auf Augen an,
und sie packte sie an den Armen, zog sie an sich, um
sie zu küssen. Christoria drehte den Kopf
absichtlich zur Seite. Helean wurde wütend; sie
stieß sie von sich. "Willst du deinen sensorischen
Input nicht wahrnehmen? Wir lieben uns!" rief sie.
Christorias betrübter Blick war
jedoch kaum erträglich für sie, und sie wandte sich
ab.
Die 1. Genetikerin von Aldebaran IV
blickte aus dem Fenster, aus dem vorhin noch Tahaas
geblickt hatte, und sah dasselbe Bild, über sich
Titan, und dahinter den erdrückend wirkenden Saturn.
"Warum hast du mich hierhergerufen?" fragte sie
kühl: "Du sagst, du kannst den Krieg gegen die
Unbekannten beenden! War das gelogen?" - "Nein. Das
war nicht gelogen..." Helean wischte sich über ihr
Gesicht mit einem entstofflichtem Taschentuch. "Ich
werde es dir beweisen!"
Eine Öffnung in der Wand spiralte
sich irisartig auf. Sie gab den Blick frei auf einen
Raum, durch den dunkelrote und graue Lichtnebel
flirrten, begleitet von mysteriöser Musik. "Siehst
du!" Helean deutete dorthin, und ging an Christoria
vorbei in den Raum. "Das sind die
Gehirnstrom-Wellenmuster des Saturn, die man von
hier aus messen kann, umgesetzt in dreidimensionale
Muster und Klänge. Dieses Muster enthält alle
Planeten-Töne unserer Sternenspirale. Nur ein
einziger Planeten-Ton fehlt in diesem Muster, und
das ist der Saturn-Ton selber."
Christoria folgte ihr in den Raum,
wider Willen fasziniert von der unerwarteten Antwort
auf ihre Frage. "Wo siehst du den Zusammenhang zu
den Unbekannnten?" flüsterte sie - während sie die
Klänge und Muster gebannt in sich aufnahm. Helean
trat vor sie und zeigte mit einer abrupten Bewegung
auf die Wand, wobei sie den Kosmos dahinter meinte.
"Die Schiffe der Unbekannten sind eine optische
Entsprechung dieser Gehirnstrom-Struktur, ins
Makrokosmische übertragen, und sie generieren diesen
Klang. Ihre innerste Molekül-Struktur ist ebenfalls
damit identisch."
Christoria starrte sie mit offenem
Mund und geweiteten Augen an und war sprachlos. Die
Griechin strich zwischen den Mustern umher wie eine
Balletteuse, zufrieden. "Das ist nicht dein Ernst!
Die Schiffe der Unbekannten hat niemand je gesehen,
und es gibt keine Aufzeichnungen. Wer sie sieht,
überlebt nicht!" Helean hielt inne in ihrem
Tanz. "Ja", sagte sie nur ruhig und ging, langsam,
auf Christoria zu. "Du hast Recht. Ich weiß es
nicht. Aber du wirst ein Schiff von ihnen sehen!"
erklärte sie. "Und du wirst sehen, daß ich Recht
habe." Christoria floh vor diesem Wahnsinn in ihren
Sphärenblitz.
*
Dr. Kim Sanguan folgte Tahaas zu
dessen altem, verfallenen Haus. Obwohl alles darin
voller Eleganz war, spürte der Junge den Moder des
Zerfalls. "Wir haben nicht viel Zeit", sagte Tahaas
mit seiner tonlosen, rauhen Stimme. "Ich mache uns
einen kokainfreien Kaffee." Kim betrachtete eine
Klangstruktur auf dem alten Holztisch - Vogelgesang
von der Erde, umgesetzt in Farben und Licht.
"Hier." Tahaas reichte ihm die Tasse. Kim dankte ihm
trocken und nahm einen Schluck. Er war verwirrt. Was
war mit dem Mann passiert, der vor ein paar Wochen
zu Christoria Fahrenheit als neuer atmosphärischer
Spezialist gekommen war? Gab es ihn noch?
"Komm. Wir haben so wenig Zeit. Komm
schnell, bevor es aus ist."
Tahaas' Stimme war ein lockendes
Flüstern, seine Augen bittende Traurigkeit und
Sehnsucht und Lebensdurst. Dr. Kim Sanguan wollte
gar nicht ungehorsam sein, aber warum konnte er
immer noch nichts anderes tun als folgen?
*
Nackt lagen sie still beieinander,
in enger Umarmung, die nicht fest genug sein konnte.
Zuflucht ... Schutz ...
Geborgenheit.
Tahaas befühlte seine großen blauschwarzen Flecken
und strich über den dünnen Schorf der Kratzer.
Während er den Kopf schüttelte, zauberte sich ein
unbegreifliches Lächeln von fernen Gestaden seiner
Seele, wo seine Gedanken niemals gewesen waren, auf
seine Lippen. Es war also noch Leben in ihm...
Für Dr. Kim Sanguan existierte
nichts mehr im Universum außer Tahaas.
"Komm, zieh dich an. Wir
müssen zurück", drang Tahaas' Stimme in sein
Bewußtsein, diesen privaten Ort der Verwirrung.
Nachdem sie sich wieder hergerichtet hatten, nahm
der Sphärenblitz sie in den großen Ballsaal zurück,
der mit Gästen überfüllt war, die venezianische
Karnevalsmasken trugen. Tahaas war selten so
fröhlich gewesen wie jetzt.
Sanguan erblickte Christoria und
lief zu ihr, erschrocken über ihr zerrissenes Kleid.
"Was ist passiert?!" rief er aufgeregt. Christoria
sah ihn an, etwas verstört, ohne ihn eigentlich
wahrzunehmen. "Ich bin ... in Ordnung", erklärte
sie. "Es war Helean. Sie hat den Verstand verloren.
Komm, laß uns tanzen."
Infolgedessen wirbelte auf den
repulsorischen Tanzscheiben alles über sie und um
sie herum, Menschen wie Kronleuchter.
*
Später levitierten ihre Tanzscheiben
langsam und nahe beieinander. "War es schön mit
Tahaas?" fragte Christoria leise. Er antwortete erst
nach einiger Zeit. "Ich glaube, ja."
Er ließ sie plötzlich los, erschöpft. Christoria
ließ ihn gehen, war zufrieden und bedrückt zugleich
wegen ihm. Sie wollte etwas zu ihm sagen, als sie
Helean sah, an der Eingangsschwelle zum Saal, in
einem flirrend-weißen plasmaenergetischem Kleid wie
einer der Engel, von denen sie zu schwärmen pflegte.
In der einen Hand hielt sie einen schwarzen
Materieklumpen, in der anderen hielt sie das
Wesen-Kind...
4
"Das M'Ir..." flüsterte eines von
den Kinder der Gäste, die hastig verschwanden, es
blieb stehen und sah zu den fünf Menschen, dann
schlich es mit ein paar anderen Kindern näher und
hörte die mahnenden Rufe nicht.
Helean starrte in alle Richtungen mit schwarzem
Feuer im Blick und wies die Türen an, sich nach
außen hin zu verriegeln. Als die Türen sich
schlossen, hasteten die Kellner und Musiker hinaus.
Ein Kyborg des Präsidiums versuchte noch,
hineinzugelangen, schaffte es aber nicht
rechtzeitig. Der Ballsaal war so gut wie verlassen.
"Du denkst, ich bin wahnsinnig. Aber
ich werde dir beweisen, daß ich es nicht bin," sagte
Helean. Tahaas und Kim starrten auf die Gestalt -
beunruhigt und entgeistert. Sie ließ sich von ihr zu
Christoria führen, zwar widerwillig, aber nicht
ungehorsam. Diese blickte verständnislos auf das
Wesen herab. "Es sieht aus wie du", war ihr erster
Gedanke, und sie sprach ihn auch aus. Helean grinste
und schüttelte den Kopf. "Ich sehe in seinem Gesicht
nur dich, Christoria - es sieht aus wie wir beide."
"Wieso ist es bei dir? Es
verschwindet immer, wenn ein Erwachsener kommt!"
rief ein Mädchen anklagend ("Floh Liavro" lautete
ihr Sondencode, von Tahaas bei der Interplex-Sonde
abgefragt, und sie erinnerte ihn an seine Virtuelle
5D-Oper 'Rotz, Schwefelfeuer, Birnenblüte, eine
Glyzine - eine Metaphysiosophie!'). Helean
drehte sich zu ihr um, das schwarze Feuer in ihren
Augen wurde schwächer bei ihrem Anblick. "Ich bin
auf den Planeten gegangen und habe nach ihm
gesucht", erklärte sie mit einer warmen und
freundlichen Stimme.
Floh Liavro blieb mißtrauisch und
ließ sich nicht einlullen, während Helean fortfuhr.
"Ich habe es gefunden, sogar ganz einfach, in der
Ruine. Als es mich sah, wollte es sich wieder
auflösen, doch ich nahm seine Hand. Diese Hand ist
fest gewesen, und als ich sie festhielt, da hielt
ich es fest. Es blieb nur bei mir! Alle anderen
Erwachsenen haben das nicht geschafft, Floh!
Verstehst du, daß es zu mir gehört?" Helean sah
eigenartig glücklich aus.
Floh Liavro antwortete ihr nicht,
sondern ging zu M'Ir. Das Wesen-Kind hatte von
Helean ihm ein Paar durchsichtiger Plasmashorts und
kniehohe blaue Stiefel bekommen. Floh starrte aber
nur in seine Augen, dann zu Helean und Christoria.
"Es sieht wirklich aus wie ihr beide!"
Als M'Ir seine Hand ausstreckte, sah
Floh Liavro wieder zu ihm. Sie zuckte zusammen, als
es sie an ihrer Stirn berührte, wo ihr Sonden-Sensor
angebracht war. Tahaas erschrak, als sie beide auf
die Knie sanken und wie unter Stromstößen
zusammenzuckten, aber Kim hielt ihn davon zurück,
die beiden voneinander zu trennen. Auch Helean, die
sie rücksichstslos auseinanderreißen wollte, hielt
er am Arm fest, woraufhin sie ihn zornig anfunkelte.
Auf dem Boden lag das fremde Mädchen mit
geschlossenen Augen und wälzte sich in Agonie, aber
sie drückte weiterhin die Hand des Wesen-Kindes
gegen ihre Stirn, das reglos neben ihr kauerte.
*
"Nein!..." Irgendetwas weinte in dem
nicht-sensorischen Strudel aus Unverständnis und
Neugier (der Strudel, in dem es kein Hören, Sehen
oder Fühlen gibt), und Floh gab dem Etwas Worte,
Gedanken und Ideen. "Ich will nicht wieder zurück.
Ich will nicht länger zerrissen sein zwischen diesen
Welten!" rief sie aus. "Da ist eine Welt voller
Bilder, Töne, Gerüche, das Gefühl von Körpern und
Spürungen auf Haut! Ich gehe immer wieder in diese
Welt, und die Kinder haben mich darin aufgenommen.
Sie berühren mich; sie spielen mit mir, aber da, wo
ich denke und fühle, da bin ich ganz allein. Immer,
wenn Erwachsene kommen, schreien erst die Kinder und
dann ich, Gefahr, Gefahr, es reißt mich aus dieser
Welt zurück - in den Strudel, aus dem ich herstamme!
Aber wenn ich dann in dem Strudel bin, dann bin ich
nicht mehr allein, mein Bewußtsein ist behütet, und
ich bin mit ihm verbunden! Doch jetzt hat sie mich
hierbehalten. Ich bin bei ihr genauso behütet wie im
Strudel, und ich will bei ihr bleiben. Der Strudel
soll mich bitte nicht mehr zurückholen!" rief Floh
Liavro.
In diesem Moment riß sie die Augen auf und starrte
schockiert auf M'Ir, der sich nicht rührte. Dann
schob sie seine Hand fort von ihrer Stirn und erhob
sich müde. Abgespannt schlich sie zu den Türen, die
noch immer geschlossen waren und es auch blieben,
auch wenn sie mit den Händen dagegendrückte. Die
anderen achteten nicht auf sie, sondern nur auf
M'Ir, der stumm in ihrer Mitte stand und bittend zu
ihnen aufsah.
Kim war unheimlich zumute. Er wandte sich ab und sah
zu Floh, die sich auf den Boden setzte und mit dem
Rücken an die Tür anlehnte, ihren Kopf in ihren
Armen auf den Knien vergrub. Als er zu ihr ging,
folgte Tahaas ihm. "Ich mach' das nicht noch mal",
flüsterte sie. " Wie kann er das aushalten?" Sie hob
den Kopf und blickte die zwei Jungen an, die vor ihr
Schulter an Schulter saßen und versuchen wollten,
sie aufzumuntern. Floh ließ den Kopf fallen und
schüttelte ihn, bevor sie ihn zwischen den Armen
vergrub. Sie fühlte, daß sie schlafen mußte, und sie
ließ es in intuitivem Vertrauen geschehen, daß
Tahaas sie in die Arme nahm. Übergangslos schlief
sie ein.
*
"Was ist das da in deiner Hand?"
fragte Chris.
Helean lachte, aber es klang freundlich. "Diesen
Gegenstand habe ich aus dem Aldebaran-System
erhalten, Chris. Meine Späher haben ihn über dem
achten Planeten gefunden, nachdem dieser von den
Unbekannten zerstört wurde. Es ist der einzige
Gegenstand in der Sternenwelt mit einer zum
Saturn-Gehirnwellenmuster identischen
Molekularstruktur. Ich bin sicher, ein Raumschiff
der Unbekannten machte einen Fehler und stürzte ab,
und vom Absturz dieses Schiffes stammt das Gebilde.
Glaubst du mir jetzt?"
Helean sah so ernsthaft und besorgt aus, daß
Christoria ihr wirklich glauben wollte. Aber die
Dinge, die in der Eisblase geschehen waren... Gerade
wollte sie Helean fragen, wie sie den Krieg beenden
wollte, da gingen alle Lichter aus. Dunkelheit
verschlang Titan. Nur Saturn leuchtete schattenhaft.
5
"Die ganze Stadt New York war in
deine grünen Augen verliebt", erinnerte sich Helean.
Sie kauerten bei Kerzenschein in einer dunklen Ecke
des Ballsaals. Christoria lächelte schwach. Die
Dunkelheit hätte ihr keine Angst eingejagt. "Was ist
geschehen?" fragte Dr. Kim Sanguan, auf seinem Schoß
still und friedlich M'Ir. Keiner antwortete ihm.
Tahaas stand als einziger. "Du mußt mich verlassen.
Ich will dich nicht quälen", sagte Helean bedrückt
zu ihm. "Als ich ein Kind war und in den Spiegel
sah, da konnte ich mir kein schöneres Gesicht
vorstellen. Ich dachte, daß alles richtig war, was
ich tat, und daß mich Gott lieben mußte. Ich dachte,
ich sei der einzige Mensch, der nie etwas falsch
macht, der nie sündigt, der immer voller Liebe ist
und ganz bestimmt in den Himmel kommt. Und dennoch
bereue ich heute so viele schlechte Dinge, die ich
damals tat." Christoria sah sie nachdenklich aus der
Schräge an. "Wie sieht es bloß aus in deiner Seele,
Helean?" wollte sie sagen, aber sie sprach es nicht
aus. Sie konnte es undeutlich spüren über den
sensorischen Empfang, so wie sonst auf Aldebaran,
ein leichtes Flimmern und Grollen: Jetzt kommen bald
die Unbekannten...
*
Fremde Gedanken kamen über ihren
sensorischen Empfang, und sie erschrak, weil es
nirgendwo Energie dafür geben konnte. "Hier
Präsidiales Patrouillenschiff Zephir. Ich
transferiere dir Energie für einen Sphärenblitz,
Chris. Halte dich bereit!" sagte die unbekannte
Stimme. Helean hatte es auch empfangen. "Laß uns zu
meiner Eisblase gehen. Geh' nicht zu der
Präsidentin!" sagte sie. Dr. Sanguan trat zu Chris.
"Tu' lieber, was sie sagt", bat er, ohne
nachzudenken. Christoria starrte ihn grimmig an.
"Hier ist deine Energie, Chris!" ertönte die
gefilterte Stimme des Kommandanten, und ihr Sensor
leuchtete auf. Sie atmete heftig und schloß die
Augen, dann nahm der Sphärenblitz sie zu sechst mit
sich - in die Eisblase im Orbit.
*
"Lande unverzüglich in einem unserer
Hangars, Christoria Fahrenheit!" hörte sie die
Stimme des Kommandanten, scheinbar besorgt, nachdem
er den Transfer analysiert hatte. Helean schüttelte
nur stumm den Kopf. "Wieso glaubst du, daß wir uns
in Gefahr begeben würden?" flüsterte Christoria.
Keiner konnte später genau sagen, was danach
eigentlich passiert war. Der Äther war erfüllt von
gleißendem Feuer, und Statik kreischte in ihren
Gedanken. Als das Chaos sich legte, sahen sie nur
noch das schwer angeschlagene, funkensprühende
Patrouillenschiff, das auf den Saturn zudriftete.
Rettungskapseln lösten sich von dem Schiff, aber zu
spät. Es zerplatzte in einem Regenbogenblitz. Die
Überreste verflüchtigten sich. Als nichts mehr davon
zu sehen war, gingen auf Titan wieder alle Lichter
an. Der erste Angriff war vorbei.
*
Floh Liavro wachte aus ihrem Schlaf
auf, der tief und fest gewesen war. Sie war
ausgeruht und erhob sich munter. Überrascht stellte
sie fest, daß sie nicht mehr im Ballsaal war. Es war
kalt. Außer M'Ir und Tahaas nahm niemand Notiz von
ihr. Alle starrten aus dem Fenster, zu Titan, wo
wieder die Lichter der Mondstadt zu sehen waren.
"Tahaas?" Sie wollte fragen, wo sie war, als das
Prioritätssignal im Code der Präsidentin eintraf,
woraufhin sie verstummte und zu Christoria blickte,
die nach einem Zögern das Hologramm einschaltete
(Helean reagierte überhaupt nicht), das sich in der
Mitte des Raumes formte.
In schreiend feuerrote Gewänder gehüllt, mit
Linearsymbolen bedeckt, blickte die Gestaltwandlerin
um sich. "Über Saturn ist ein Schiff meiner Flotte
zerstört worden. Klärt das auf!" M'Ir zuckte bei
ihrem Anblick und beim Hören ihrer knarrenden
Zweiklang-Stimme zusammen und wollte sich hinter Kim
verstecken, doch Tahaas zog ihn hervor, weil er
wollte, daß die Präsidentin ihn sah (sie nahm
keinerlei Notiz von ihm).
"Es waren die Unbekannten. Sie führen keine Angriffe
mehr gegen Aldebaran, sondern gegen dich, Duan
Rulian!" rief Helean. Die Präsidentin (fast
humanoid, aber mit einem Chitin-Panzer statt einer
Haut) lachte finster. "Ihr Narren! Niemand weiß, wer
oder was die Unbekannten sind. Ihr wärt tot, wenn
ihr ihnen begegnet wärt... Und ich bin nicht im
SOL-System, also gilt der Angriff nicht mir. Findet
heraus, was wirklich geschieht - egal, um welchen
Preis!" Statik überdeckte die Sendung - ihre
Silhouette wurde zu formlosem Lichtsturm.
*
"Sie lügt uns an! Sie weiß, wer die
Unbekannten sind. Du mußt das auch erkennen können -
du bist genauso einfühlsam wie vor zehn Jahren!"
rief Helean. Christoria blickte sie an und wußte
nicht, was sie dazu sagen sollte. "Wir müssen uns
wirklich in Acht nehmen vor ihr!" beharrte Helean
noch einmal. "Was bist du für ein Mensch, Helean?"
fragte Christoria entgeistert.
Helean sah sie wehmütig an. "Ich
verstehe mich selbst nicht!" rief sie dann. "Ich
kenne mich nicht!"
"Dafür kenne ich dich", eröffnete ihr plötzlich
Tahaas Raroia Fangataufa: "Über meine Kunst spottest
du, so wie alle anderen, die sie vor ein paar Jahren
liebten. Und mich liebst du so sehr, so verzweifelt,
als wäre es dein letzter Strohhalm. Du hast Angst,
nicht mehr in der Lage zu sein, zu lieben. Du
könntest nichts an dir noch akzeptieren, solltest du
nicht mehr lieben. Du hast so sehr geliebt, daß ich
ein Abhängiger deiner Liebe bin - während ich leicht
vom Opium loskommen könnte, wenn ich es nur wollte.
Du darfst sie nicht verlieren, Helean. Du sehnst
dich nach deiner Menschlichkeit, die du verloren
siehst, denn die Dinge, die du tust, die sind
häßlich, und du bist durcheinander - du willst sie
nicht tun. Deshalb willst du das Richtige tun. Du
bist auf einem Blindflug durch dein Bewußtsein, und
du steuerst nur noch nach deinem Gefühl für Liebe."
Er berührte ihr Gesicht und strich ihr die Tränen
fort. Kim sah mit heftig schlagendem Herz zu und
keuchte auf.
*
Christoria war anders als Helean.
Einfacher und friedfertig, und dennoch geschult im
Gebrauch ihrer Macht, innen und außen. Aber sie
sehnte sich den Sonnenstaat BOLO'BOLO herbei, der
ferner denn je schien. Als Tahaas sich in sein
Schneckenhaus auf Titan zurückziehen wollte, hatte
Kim Sanguan beschlossen, mit ihm zu gehen. "Nimm
M'Ir mit dir", trug ihm seine Vorgesetzte in einem
Satz auf, der nur mit I-Vokalen auskam. "Und Floh
auch..." Fügsames Nicken. Der Sphärenblitz nahm die
vier mit sich und ließ Christoria mit Helean alleine
zurück, allein mit ihr und ihren Plänen... Auf Titan
hingegen feierten die Bewohner der Mondstadt das
Fest des Lichts.
*
"Die Gefahr ist doch gar nicht
vorbei!" schrie Kim durch den Lärm der ausgelassenen
Menschenmenge zu Tahaas. Der einstige Künstler
lachte nur. Unbeschwert, wie schon lange nicht mehr.
Vor ihnen blies ein Schausteller Plasmablasen
verschiedenster Größen in die Luft, und Dr. Kim
Sanguan wußte, daß er das auch irgendwann einmal tun
würde.
*
In der Eisblase über Titan blickten
Christoria und Helean in enger Umarmung auf Saturn,
während leise im Hintergrund die Musik von Gustav
Holst ertönte. "Erinnerst du dich noch gut an
früher?" fragte Christoria nervös. "Ich habe nichts
vergessen." Es war wie damals; Verlaine hätte sie
beide dabei sehen können, wie sie sein Gedicht "Sur
le balcon" zu gelebter Wirklichkeit werden ließen.
Die Töne von Holst verklangen - die Eisblase verließ
den Orbit von Titan.
"Gehen wir ganz nahe heran", murmelte Helean
entschlossen. Sie steuerte sie zum Saturn. Was ist
in dieser Kälte des Raumes - überall ist etwas; und
seltsame Prozesse finden überall statt, in
mikrokosmischen Bereichen, die wir uns ausgedacht
haben, aber die wir uns doch nicht vorstellen
können. Durch diesen gewaltigen Ozean an Vorgängen
im Nichts bewegte sich die Eisblase wie ein
Ruderboot, und ihre Ruderschläge waren ein paar
aufgewirbelte Ionen. Und Saturn, lebender Planet,
atmete den Ozean, wie die Menschen die Luft.
6
Der Teppich in Tahaas Zimmer war
noch sonnenwarm; müde räkelte sich Dr. Kim Sanguan
auf ihm - im Strahl des Satelliten-Lichtes, der
durch das einzige Fenster in den Raum fiel, sah er
den Staub, der in der Luft stand und versuchte sich
vorzustellen, wie das sein mochte. M'Ir und Floh
liefen mit Kerzenständern in den düsteren Zimmern
herum, verwirrt und verzückt von den blauen
Lichtkugeln (die Musik von Arnold Schönberg tanzte
in ihrem Innern), von dem Bild mit den Träumen der
Dichter, und von den Skulpturen hübscher Jungen, die
zarte Gerüche und Gedanken verstreuten.
Tahaas ließ sie machen - er saß an Kims Seite und
blickte auf ihn herab. "Du bleibst doch bei mir?"
flüsterte er. "So wie ich bei dir. Ich gehe nicht zu
ihr zurück, ich brauche sie nicht mehr. Ich brauche
gar nichts mehr! Es ist vorbei... Bleibe bei mir an
diesem Ort - bitte." Der Filipino öffnete
die Augen und sah zu ihm auf. "Du zitterst", sagte
er. Plötzlich packte er seine Hände und hielt sie
fest. Tahaas' Atem wurde ruhiger; er spürte die
Kraft.
Floh und M'Ir kamen ins Zimmer
zurück (das Wesen-Kind starrte auf die Hände der
beiden Jungen). Sie waren festgefroren in dem
Augenblick. Floh Liavro nahm sich müde den
Sonden-Sensor von der Stirn; sie konnte es nicht
mehr ertragen, für all die fremden Gedankengänge
Worte zu finden und gleichzeitig absolutem
Unverständnis in M'Ir gegenüber ihrem eigenen
Bewußtsein zu begegnen. Das Wesen-Kind schlurfte zu
Kim und legte sich neben ihn, sich dicht an ihn
schmiegend. Es war davon fasziniert, daß sie sich an
den Händen hielten. Sanguan lächelte und reichte ihm
seine linke Hand. M'Ir nahm sie erstaunt (und hielt
sie mit beiden Händen fest...). Floh nannte den
Grund seines Staunens. "Sie sind viel größer als
seine."
In diesem Augenblick verloschen die
Lichter auf Titan zum zweiten Mal... Die vier traten
hinaus auf die dunkle Straße, wo das Fest des
Lichtes aufgehört hatte.
*
Ein Geisterschiff glitt chimärenhaft
heran, an die Eisblase, die durch die Ringe zur
Atmosphäre des Saturn flog. Es war durchsichtig und
bestand nur aus den zärtesten Nebeln. In seinem
Innern bewegten sich undeutliche Gestalten. "Wir
drehen ab!" Die Stimme Heleans war voll Ruhe.
Christoria Fahrenheit konnte ihr nicht
widersprechen. Sie konnte überhaupt nicht mehr
sprechen. Die Angst bildete einen unlösbaren Knoten
in ihrer Kehle. Helean lachte ohne Spott und
schaltete die Licht-Schilde ein, dann wendete sie.
*
Ein Geisterschiff glitt chimärenhaft
heran, an die Mondstadt, in der die Menschen
schrien... Die schmutzigen Gassen, das Bellen
umherstreunender Hunde, das Fellini-hafte
Straßenfest voller Menschen, raufende Gossenkinder,
der seltsame Wind, der aus dem Nichts zu kommen
schien - alles das sah Tahaas Raroia Fangataufa
heute wie zum ersten Mal: die Stadt, in der er
lebte, und gleichzeitig die Stadt, nach der er sich
immer gesehnt hatte.
Das Schiff der Unbekannten kam weiter herunter,
direkt auf sie zu, als suchte es nur nach ihnen.
M'Ir weinte und wollte sich verstecken, aber es gab
nirgendwo einen sicheren Ort.
"Ich transferiere euch Energie für
einen Sphärenblitz!" hörte Tahaas auf einmal die
Stimme von Helean über seinen sensorischen Empfang.
"Flieht von Titan! Ihr müßt euch in Sicherheit
bringen!"
Kreischende Statik, aber der Sensor
leuchtete. "In Sicherheit!" Irrwitz. Tahaas war den
Tränen nahe. Das Schiff stand direkt über der Kuppel
der Mondbasis. Es berührte sie und glitt einfach
durch sie hindurch.
Die Sekunden waren wie heiße
Tropfen von geschmolzenem Wachs, die auf die zarte
Hand eines Jungen tropften. Die beiden Männer
starrten hoch zu dem Schiff, und Sanguan löste sich
als erster aus seiner Starre. Er trat an Tahaas
heran, von hinten, er umarmte ihn und griff nach dem
Sphärenblitz-Sensor. "Ich weiß, was ich tun möchte!"
flüsterte er. Tahaas nickte. So schnell hatte er
noch niemals etwas getan in seinem ganzen Leben: Der
Sphärenblitz löste sie auf und brachte sie nach
Tahaas' Willen - zurück auf die Eisblase!
7
Als sie verschwanden, löste sich das
Schiff über der Mondstadt auf, ohne irgendetwas
getan zu haben. Tahaas registrierte es in einem der
Hologramme und ballte seine Hände zu Fäusten. "Sie
wollen nur uns!" stieß er zornig hervor. "Warum?" Er
schaltete das Hologramm aus und drehte sich mit
blitzenden Augen zu den anderen herum. "Nein,
Tahaas", sagte Christoria mit einer Sanftheit, die
Kim noch nie an ihr gehört hatte und die ihm Angst
machte. Sie ging zu dem düsteren Punk und nahm seine
Hand zwischen ihre Hände, eine semiotische Geste.
"Frag' nicht nach einem Warum. Schau nach draußen,
und sag' mir, was ein Darum wert ist."
Die Atmosphäre des Saturn fluoreszierte violett und
grün, dicht vor der Eisblase und dem Geisterschiff.
*
Feindkontakt. Einem
goldgrün-feurigem Blitz wich die Eisblase aus, dann
kollidierten sie. Der Fliegende Holländer glitt
langsam durch sie hindurch. Christoria gefror zu
Eis. Die Gestalten in ihrem Innern wurden zu fester
Materie, direkt vor ihren Augen.
Angst und Unglauben.
Von allen Seiten erschienen
Chitin-Gestalten in roten martialischen Gewändern,
jede mit dem Siegeldolch und den höhnischen, kalten
Augen der Präsidentin ... - Christoria hörte ihr
Gelächter in ihren Gedanken, wie das Kreischen von
Metall und hysterischer Gier nach Macht. Sie sah auf
den Dolch, und sie spürte bei dem Anblick, daß er
von Anfang an für sie bestimmt gewesen war.
"Nein!" Der Aufschrei von Tahaas...
Der Dolch sauste auf Christoria nieder, doch er
berührte sie nicht. Kim warf sich vor und stürzte
sich zwischen sie und die Unbekannte. Sein Schrei
erstickte in einem Gurgeln.
*
Er fiel. Er war zu einem Klumpen
schwarzer Materie geworden, noch bevor er den Boden
berührte. Stummes Entsetzen war in Chris, als sie
auf ihn herabblickte.
Auf einmal geschah alles blitzschnell: Eine der
Unbekannten stach auf das M'Ir ein. Das Wesen-Kind
kreischte in einem unerträglichen grellen Laut, aber
das Messer berührte es nicht.
Das M'Ir löste sich auf, so wie Floh
es schon so oft bei ihm gesehen hatte... Die
Unbekannten hielten im selben Moment inne (die Augen
der Präsidentin glasig, verwirrt über die
unbegreifliche, entsetzlich schöne Tat). In
Schizophrenie schrien sie auf - in genau dem
gleichen schrecklichen Laut, den das Wesen-Kind
vorher ausgestoßen hatte - und desintegrierten,
ebenfalls auf die gleiche Weise... Von einer Sekunde
zur anderen war das Geisterschiff fort, ausgelöscht,
der Krieg vorbei. Die Unbekannten existierten nicht
mehr, genausowenig wie das M'Ir. Christoria starrte
in die plötzliche Stille des Alls. Der Saturn war
jetzt so nah wie nie zuvor.
Es war nichts mehr zu hören, nur das
Geräusch von Tahaas' leisem Schluchzen.
*
Eine Fremde. Hierhergekommen durch
einen Strudel von Bildern, Lichtern und Farben.
Stille. Ewige Stille, ungestört durch die lautlos
glitzernd lachenden Rhomben, die umhertrieben. Dr.
Kim Sanguan wußte, daß er lebte, auch wenn niemand
sonst mehr es wußte - außer dem Saturn... Er sang
ein Lied, und seine Seele schmiegte sich in die
wohligen Energien unbegreifbarer Gedanken...
*
Sie drangen ein in die Atmosphäre
des Saturn. Von wo nie jemand zurückgekehrt war.
Hinein in das Herz alles Lebendigen, durch Schlieren
und Nebel. Zeittore öffneten sich und schlossen
sich. Wirklichkeiten entstanden und vergingen
wieder. Bilder und Gesänge, unverständlich.
Plasmablasen, die kein Kim mehr durch die Luft
schicken kann.
Christoria hörte Stimmen, die sie kannte,
Mädchenstimmen, die ihr vertraut waren. Die eine
zutiefst in ihrem Innersten, und sie erinnerte sich.
Ihre eigene Stimme, vor zehn Jahren. Die Christoria
der Gegenwart und die Christoria der Vergangenheit
verschmolzen miteinander. Sie wurden zu ein und
derselben Person, als sich ihre
Raum-Zeit-Koordinaten überschnitten.
Ein viktorianisch anmutender
Raumkreuzer mit weiten starren Flügeln: Das Schiff
der Präsidentin rollte schlingernd vom Kurs ab,
direkt auf den lebenden Planeten zu, gegen alle
Direktiven des Saturn-Kommittées "" verstoßend. In
Panik liefen Menschen (Passagiere und Besatzung)
durch die Korridore und flüchteten mit den
Raumbooten von Bord. Wilde Schreie und Alarme, das
Krachen der Sprengladungen, als die Raumboote aus
den Silos donnerten, eigentümliche Stille und
leises Heulen unscheinbarer Alarme... In der
Bibliothek hockte Christoria vor dem achteckigen
Sternenfenster und sah auf den näherrückenden
Planeten (die Interplex-Sonde spielte die archaische
Musik, die sie so faszinerte).
Ein Schniefen hinter ihr ließ sie
sich umdrehen. Da stand Helean Papathanassiou,
Tochter des irdischen Botschafters, vierzehn Jahre
alt und elend anzusehen. "Es gibt kein Raumboot
mehr!" flüsterte sie mit erstickter Stimme. "Sie
haben mich vergessen." Christoria war überrascht,
und im ersten Moment enttäuscht, daß sie nicht
alleine war. Dann dachte sie daran, daß sie
natürlich immer noch alleine war. "Du bist nur ein
Androidendoppelgänger, wie alle Kinder auf diesem
Schiff. Du brauchst dich nicht zu sorgen. Wegen
möglichen Attentaten, so wie diesem, ist die wahre
Helean gar nicht hiergewesen! Ich wäre auch nicht
hier, wenn ich die Diener nicht hereingelegt hätte."
Sie wandte sich wieder dem Anblick des fremden
Planeten zu. Sie war überrascht, als das Mädchen
zornig den Sessel herumriß - dafür durfte sie nicht
programmiert sein. "Gibt es dann überhaupt eine
falsche Helean!? Ich weiß nicht, was ich bin!" rief
sie und sank zusammen. Christoria erhob sich aus
ihrem Sessel und kniete bei ihr nieder. Als sie in
ihre grünen, lebendigen Augen blickte, begriff sie.
"Also bist du die echte Helean",
murmelte sie verwirrt und streichelte ihr Haar. Auf
einmal verstand auch das andere Mädchen. "Du bist
ebenfalls kein Android."
Christoria lachte. "Komm, schau mit
mir hinaus... Wir berühren gleich den Planeten!"
flüsterte sie. Sie nahm Helean an der Hand und zog
sie herunter neben sich. Gemeinsam starrten sie
hinaus, und Christoria verlor sich in dem Anblick.
Die Stimme Heleans nahm sie kaum wahr.
Helean stolperte überrascht
rückwärts, und sie fielen zu Boden, doch sie hörten
nicht auf, sich zu küssen. Es riß sie in einen
Taumel, und sie achteten gar nicht mehr darauf, als
das Schiff in die Atmosphäre eindrang. Erst eine
knarrende Stimme schreckte sie auf. "Ihr!" Sie
ließen sich los und standen hastig auf. Ungehalten
blickte die Präsidentin auf die beiden Mädchen
nieder. "Warum seid ihr hier? Ich habe nicht
mein eigenes Schiff sabotiert, um mit euch zusammen
in den Saturn zu stürzen - das "Omega-Verbot" werde
nur ich allein übertreten!" erklärte sie tadelnd,
wie Christorias Lehrerin. Mit langsamen Schritten
kam sie auf die beiden Mädchen zu. Christoria
blickte Duan Rulian entgegen, innerlich gewappnet
und bereit, sich zu wehren, während sich Helean
hinter ihrem Rücken verbergen wollte. Doch in diesem
Augenblick löste sich das Schiff fast übergangslos
auf und zerfloß in der Materie des Saturn.
*
"Bleib bei mir!" Christoria spürte
nichts in der völligen Nicht-Sensorität, spürte
nichts in sich außer Helean, und sie wußte nicht,
wer den Gedanken geäußert hatte, oder ob sie es
beide als Einheit gedacht hatten.
Wie ein gewalttätiger Schlag kam die Berührung mit
der Präsidentin. "Ihr!" hörten sie ihre Worte, ohne
mit ihr zu verschmelzen. "Ihr seid hier!" Der Ausruf
einer Hexe. "Hab' keine Angst, Helean!" sagte Chris,
der stärkere Teil. Und der Präsidentin rief sie zu:
"Wir tun dir nichts!" Was nur deren Gelächter
hervorrief... Christoria wollte den Kontakt zu ihr
abbrechen und zog die teilnahmslose Helean mit sich.
Die Präsidentin konnte sie nicht aufhalten, und sie
waren fort, wieder alleine mit sich, ein einziges
Bewußtsein. Stille und Alleinsein, für Stunden.
Ganz sanft kam der Saturn um sie
herum; spürbar um sie herum wie ein warmes Zimmer,
in dem nichts Verständliches war. Behutsam und
allergisch zugleich schleuste er sie wieder aus sich
heraus, aber ein Bild von ihrer völlig nach innen
gerichteten Zweisamkeit, in der es keine Außenwelt
gab, behielt er in sich - wie auch ein Bild der
Präsidentin: die Furcht vor Chris' Stärke und
Heleans unvorstellbarer Sensibilität und der
Vorstellung der Zweisamkeit...
Der Raumkreuzer, der den Planeten
nur leicht gestreift hatte, war auf seinem Kurs
geblieben und wurde wieder zu Materie.
Die Präsidentin wandte sich
achselzuckend von den Mädchen ab und verschwand in
ihrem Sphärenblitz, ohne auf die Rettungsschiffe zu
warten. Die Bilder verschwammen, die Stimmen waren
fort, als letztes der Hauch ihres Kusses.
Der Saturn zerteilte die Zeit
wieder, und die Eisblase der Gegenwart verteilte
sich auf die verschiedenen, nebeneinander
herlaufenden Zeitschleifen: In einer von ihnen
verließen sie die Atmosphäre.
*
"Die Vorhänge der Zeit mögen sich
uns öffnen. Ich kann nicht mehr sehen, was
geschieht. Die Geschichte ist ein Fragment, und ich
weiß nicht, was jetzt noch alles geschieht. Ich sehe
Tahaas reden, aber ich verstehe nicht, was er sagt.
Er ist jetzt frei - frei von allem. Er sagt
möglicherweise irgendetwas über die Unbekannten.
Helean und ich sind momentan die Eltern von M'Ir,
das unser Kind ist, und das des Saturn. Wenn er sich
einmal in seiner Vollständigkeit versteht, können
die Menschen und der Saturn miteinander Verbindung
aufnehmen. Der Krieg ist vorbei, weil das Bild
dieses Krieges im Saturn erloschen ist, das die
Präsidentin dort einst zurückgelassen hat. Ich
erreiche in den folgenden Jahren alles, was ich mir
vorgenommen habe, aber nichts davon bedeutet mir
noch sehr viel.
In einer anderen Zeitschleife ist
Helean vielleicht in Griechenland, mit M'Ir, blickt
auf ihn herab und fühlt sich einsam in ihrer
Wirklichkeit, die so seltsam real ist. Aber das
Gefühl verfliegt, denn als erstes bringt sie ihrem
Jungen bei, wie man einen Sirtaki tanzt."
-
Christoria Fahrenheit, Titan, 2119
8
Das Fest der Straße hörte auf. Der
kleine Punk hob nicht den Blick zu dem Giganten über
sich, dem Pitoyable Frčre!
Nicht länger würde er hier
verweilen...
Im Herz eines Menschen ging die Sonne auf. In ihrem
Licht lief er wieder mal los, ein Rimbaud von
Tausenden. " ... um den Ort zu finden, und die
Formel. "
E
N D E
© Daniel Emerson Aldridge
2000