Dreihundert
Jahre sind vergangen, seit die Schiffe der Piraten
durch die Karibik segelten. Seit der Zeit, da die
Seefahrer beim Anblick von Totenkopfflaggen
erzitterten und spanische Küstenstädte von
Plünderern in Schutt und Asche gelegt wurden,
spielte sich nur wenig in jenen Gewässern ab, was
die Menschen dermaßen fasziniert.
Das Bild
des Piraten ist das einer tragischen Heldenfigur,
mutig, aufrichtig, hart, trotzwohl mit leichten
Fehlern. Die Legenden ranken sich unermüdlich, auch
weil es nur wenig akkurate Informationen über die
Piraten gibt. Das Nichtvorhandensein von
verläßlichen Quellen ist aber nur teilweise
verantwortlich für das Entstehen dieses Mythos.
Die
Glorifizierung der Piraten ist durch unzählige
Romane und Filme betrieben worden. Unter diesen
Umständen wäre der Versuch des
Geschichtswissenschaftlers B. R. Burg, in seiner
Studie "SODOMY AND THE PIRATE TRADITION"
die gesellschaftlichen Verhältnisse der Piraten
einzuschätzen, kaum der Mühe wert gewesen. Wenn die
Piraten der Karibik nicht eine besonders einmalige
menschliche Gruppierung gewesen wären. Ein
Hauptmerkmal, das sie von anderen, ‚gewöhnlicheren‘
Gemeinschaften unterschied, waren ihre sexuellen
Aktivitäten.
In
Abhandlungen wird ihr Sexleben selten erwähnt, aber
die wenigen Bezüge darauf und auch die Anekdoten
über Seefahrer vermitteln den Eindruck, daß Piraten
einfach eine weitere Gruppe von Menschen waren, die
Homosexualität in gesellschaftlich sanktioniertem
Rahmen praktizierten. Was kaum der Fall war. Die
Homosexualität der Piraten in der Karibik in der
zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts ist
leicht zu unterscheiden von Homosexualität im
antiken Griechenland. In anderen Kulturen und
Zeitaltern waren solche Formen akzeptierbarer
Homophilie nur ein Teil der soziosexuellen Praxis.
Unter
Piraten, an Bord ihrer Schiffe oder auf den
west-indischen Inseln, wo sie lebten, war
Homosexualität keine integrierte oder untergeordnete
sondern die einzige Form sexueller Betätigung.
Allerdings
reicht Ausschließlichkeit allein nicht aus, um ihre
Gesellschaftsform von anderen homosexuellen
Gruppierungen abzusetzen. Gefängnisinsassen
verschafften sich ihre sexuelle Befriedigung durch
homosexuelle Praxis, und die Natur von
Homosexualität im Gefängnis ist von Generationen von
Psychologen, Soziologen und Kriminologen in weitem
Ausmaß studiert worden (ohne komplett verstanden zu
werden). Jedoch die meisten Gefängnisinsassen leben
nur vorübergehend im Gefängnis, und Homosexualität
findet dort im strengen Kontext statt, der von außen
den Gefangenen vorgeschrieben wird – durch eine
Gesellschaft, die sowohl ihre Gefangenen als auch
deren Homosexualität verurteilt.
Der
Lebensstil der Gesellschaft der Piraten entstand aus
freiwilligem Verlangen. Homosexualität war normal
und natürlich für die Piraten, und sie waren nicht
den Einschränkungen einer heterosexuellen
Gesellschaft ausgesetzt, daher brauchten die
Seeräuber ihre Sexualität nicht zu unter einem
Schleier verbergen oder zu unterdrücken - vor einer
Masse, die solche sexuellen Praktiken ablehnte und
in härtestem Maße, entweder theoretisch-prinzipiell
oder praktisch-brutal, gegen eine solche Entfaltung
vorging. Die Außenwelt konnte sich nicht einmischen.
Das
offensichtlichste Charakteristikum der
Piratengemeinschaften und überhaupt aller
west-indischer Siedlungen der Britischen Krone des
17. Jahrhunderts – und das machte Homosexualität in
der Karibik geradezu obligatorisch – war die beinahe
gänzliche Abwesenheit von Frauen in fast allen
Gesellschaftsschichten. Der kaukasische
Bevölkerungsanteil auf den west-indischen Inseln
bestand – abgesehen von den wenigen Landarbeitern
und Händlern – aus Kriegsgefangenen, Seeleuten,
Deserteuren, Entführungsopfern, vertraglich
gebundenen Dienern und Verbrechern. Bei diesen
Kategorien gab es hauptsächlich nur Männer, die
Anzahl der Frauen war gering.
Obwohl
auf den meisten der englischen Inseln eine kleine
Anzahl von Frauen gegenwärtig war, standen sie
prinzipiell nicht zur Verfügung für umfassendere
sexuelle Betätigungen. Einige hatten die wenigen
Farmer, Händler oder sonstigen Arbeiter geheiratet,
der Rest waren Dienerinnen, deren Herrschaften
verhinderten, daß sie Sex hatten oder heirateten,
denn dies hätte ihren Arbeitswert verringert. Es
wurden Gesetze verabschiedet, mit Strafen wie z.B.
Auspeitschen für weibliche Dienstkräfte, die sich in
heterosexuellen Aktivitäten betätigten.
Da der
Großteil der Frauen der West-indischen Inseln schon
den Ansässigen versagt blieb, war dies bei den
Piraten noch mehr der Fall, da diese nicht gerade
häufig im Hafen einliefen. Dieser Mangel bedeutete
jedoch keine Entbehrungen. Sie waren schon durch
ihre Neigungen nicht auf Frauen angewiesen. Piraten
stammten aus den Reihen der Seeleute, die auf
Handelsschiffen über den Atlantik segelten. Die
meisten hatten ihr Handwerk als ehrliche Seeleute
erlernt und sich dann der Piraterie zugewandt, weil
sie entweder keine andere Arbeit fanden, oder weil
sie gefangengenommen worden waren und dann von ihren
Fängern dazu überredet wurden, Pirat zu werden. Sie
waren an das Leben des Seemanns gewöhnt, mit der
langen frauenlosen Zeit. Keiner von ihnen hatte
lange Ozeanreisen bestanden, ohne ausgiebige
homosexuelle Kontakte gehabt zu haben.
Viele
hatten ihre Laufbahn auf See schon in jungen Jahren
begonnen, und offensichtlich hatten die
prä-adoleszenten Jungen, oder auch die älteren
bereits pubertierenden Seefahrer noch kein Alter
erreicht, in dem sie sich schon unwiderruflich zu
Frauen hingezogen fühlten. Ihre Erfahrungen an Bord
boten ihnen dann die ausführliche Gelegenheit zur
Erotisierung des Mannes, und es gab nichts in ihrem
Leben, das die Entwicklung ihrer sexuellen
Präferenzen einschränkte.
Diejenigen,
die später Piraten wurden, fanden heraus, daß die
Praktiken der Piraten sich nicht großartig von denen
der allgemeinen Seefahrerschaft unterschied.
Die
Homosexuellen Piraten mußten sich nicht vor der
Gesellschaft abschirmen. Das Beschäftigungsfeld des
Piraten, und die Tatsache, daß sich überhaupt ein
Mann in diesen Breitengraden aufhielt, garantierten
schon beinahe für seine Homosexualität. Hier wurde
er nicht gequält oder verfolgt, mußte sich nicht
verstellen oder Ausflüchte und Vorwände zu Hilfe
ziehen.
Ein
erstaunlicher Aspekt ihrer sozialen Struktur war die
funktionale Ähnlichkeit ihrer grundsätzlichen
Institutionen zu den entsprechenden Domänen der
heterosexuellen Gemeinschaften. Die Methoden, um
Wissen, Werte, Geschicklichkeiten und Praktiken zu
vermitteln, die die Piraten als wertvolle soziale
Gruppe von zufälligen oder normal entstandenen
Gruppierungen unterschied, war eines dieser
Charakteristika.
Zu dem
Zeitpunkt, da die jungen Seeräuber zum ersten Mal
auf dem Piratenschiff mitfuhren, hatten sie sicher
schon homosexuelle Kontakte gehabt, jedoch die
Erziehung durch ihre Fürsorger vertiefte sicherlich
noch ihre sexuelle Orientierung und transformierte
sie zu wahrhaften Homosexuellen. Die Besonderheiten
des Seemannshandwerks, des Kampfes und der Liebe
wurden ähnlich wie auf Handelsschiffen oder bei der
Marine weitervermittelt.
Wie in
heterosexuellen, sozialen Systemen, wo die Vielzahl
von sexuellen Kontakten durch wirtschaftliche und
institutionalisierte Verhältnisse eingeschränkt ist,
konnten die Piraten des 17. Jahrhunderts in aller
Freiheit relativ natürliche menschliche Beziehungen
entwickeln. Statt Familie, Wirtschaft oder Religion
hatten sie die Matelottage, ein eigenes System, um
eine Bindung zwischen Männerpaaren zu bilden und zu
festigen, ein gemeinsam akzeptiertes Arrangement mit
geteilter Verantwortung, gemeinsamen
Besitzansprüchen und Erbrechten. Ihre Rechtmäßigkeit
wurde nicht nur von den betreffenden zwei Männern
vertreten, sondern auch von ihren Freunden und
Kapitänen.
Die
Homosexualität der Piraten hat kaum mit der
ungeheuren Grausamkeit zu tun, für die die Piraten
bekannt waren. Es gab Beispiele von Sadismus
zwischen den Piraten, so wie Sadismus auch ein Teil
von Heterosexualität ist. Aber methodische Folter
diente den Piraten zur Informationsgewinnung, nicht
zur sexuellen Befriedigung. Gefangene wurden in
einem Maße mißbraucht, das nur selten das legale
Strafmaß Englands übertraf, wo noch Strecken und
Vierteilen praktiziert wurde, und das Verbrennen von
Ketzern erst seit der Königin Elisabeth außer Mode
gekommen war.
Während
die Piraten nicht mehr Spaß als andere daran hatten,
anderen Schmerz zuzufügen, so waren sie aber auch
nicht zärtlicher oder liebevoller. Weichlichkeit war
nicht existent unter den Piratenbesatzungen, und
selbst die Männer, die auf ein schickes, modisches
Erscheinungsbild Wert legten, gingen immer sicher,
den Part des Recken zu spielen, und nicht den des
Gecken. Nichts ist an diesem Verhalten besonders
aufsehenerregend. Die Piraten lebten in den ihnen
vertrauten sozialen Mustern. Die notwendigen
Geschicklichkeiten waren Zähigkeit, Vitalität, Mut
und ihr Wettbewerbsgeist. Auch die homosexuellen
Piraten glorifizierten die Eigenschaften, die ihr
Überleben möglich machten.
Eine
große Kluft von 300 Jahren trennt uns von dieser
Zeit, und es ist fast unmöglich, noch Wahrheiten zu
postulieren über die Natur der menschlichen
Handlungen und Interaktionen, wenn diese Wahrheiten
doch auf den beschränkten fundierten Kenntnissen
basieren. Ich zögere, den Schluß zu ziehen, daß
diese homosexuellen Piraten ein Teil der
Gesellschaft hätten sein können, wenn die Masse der
heterosexuellen Mehrheit ihre Feindseligkeit ihnen
gegenüber unterdrückt und ihre Akzeptanz zum
Ausdruck gebracht hätte. Welchen Nutzen man aus
dieser Studie gewinnen kann, ist nicht, daß
Homosexualität und Heterosexualität, bzw. Piraterie
und Bourgeoisie, in friedlichem Miteinander
funktionieren können, sondern daß homosexuelle
Gemeinschaften ohne Probleme absolut unabhängig von
heterosexuellen Gemeinschaften existieren können und
sollten.
Abgesehen
von dem Zeugen und Gebären von Kindern, können
Homosexuelle sämtliche Bedürfnisse und Wünsche
erfüllen, während sie eine Gemeinschaft stützen und
erhalten, die einzig dadurch bemerkenswert ist, daß
sie nicht besonders bemerkenswert ist. Das Leben der
Piraten war nicht ungewöhnlicher als das der anderen
Menschen ihrer Zeit.
Es ist
die heterosexuelle Gesellschaft, die pathologisch,
antisozial, verkommen und verwerflich war und/oder
weiterhin ist ...
©
2001 Daniel Emerson Aldridge
Stand: 1. September 2023